Cassia & Ky – Die Flucht
überrascht nach den anderen. Wie ist es möglich, dass sie das helle Licht und das fehlende Rauschen des Regens noch nicht bemerkt haben?
Als ich Ky, Eli, Indie und Hunter betrachte, überlege ich, wie viele unsichtbare Verletzungen ein Mensch wohl ertragen kann, in seinem Herzen, seinem Verstand, seiner Seele.
Wie halten wir uns aufrecht?
, frage ich mich.
Was treibt uns an?
Als ich aus der Höhle hinaustrete, blendet mich der helle Himmel. Ich schütze die Augen mit einer Hand, wie Ky es immer tut, und als ich sie wieder herunternehme, bilde ich mir für einen Moment ein, ich hätte einen Daumenabdruck hinterlassen, eine Markierung welliger dunkler Linien, die den Himmel beflecken. Doch dann bewegt sich der Abdruck, gerät durcheinander, und ich erkenne, dass es nicht die Wirbel meiner Finger sind, sondern Vögel in einem lockeren Schwarm, winzig, durcheinandersausend, hoch oben in der Ferne. Und dann lache ich über mich selbst, weil ich mir eingebildet habe, ich könnte den Himmel berühren.
Als ich in die Höhle zurückkehre, um die anderen zu wecken, raubt mir der Anblick den Atem.
Während wir geschlafen haben, hat er die hintere Wand bemalt. Mit raschen, leichten Strichen, in farbtropfender Hast.
Er hat die Felswand mit Flüssen aus Sternen verziert. Er hat eine Landschaft mit Felsen, Bäumen und Hügeln erschaffen. Auch einen Strom hat er gemalt, einen, der tot und lebendig zugleich ist, mit Fußspuren am Ufer. Man erkennt ein Grab mit einem steinernen Fisch darauf, dessen Schuppen das Licht nicht reflektieren können.
In die Mitte all dessen hat er seine Eltern gezeichnet.
In der Dunkelheit konnte er nicht sehen, daher gehen die Szenen ineinander über. Manchmal hat er seltsame Farben gewählt. Ein grüner Himmel, blaue Steine. Und ich stehe auch da, in einem Kleid.
Das Kleid ist rot.
Kapitel 45 KY
Die Sonne brennt so heiß auf das Boot, dass man sich daran fast die Finger verbrennt. Meine Hände röten sich, aber ich hoffe, es fällt ihr nicht auf. Ich will nicht mehr an den Tag zurückdenken, an dem sie mich sortiert hat. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen nach vorn blicken.
Ich hoffe, sie empfindet genauso, aber ich frage sie nicht. Erst geht es nicht, weil wir auf dem schmalen Pfad hintereinander hermarschieren und alle mithören könnten, später bin ich zu müde, um die richtigen Worte zu finden. Cassia, Indie und Eli helfen Hunter und mir, indem sie unsere Rucksäcke tragen, aber trotzdem brennen und schmerzen meine Muskeln.
Die Sonne scheint noch immer, doch am Horizont ballen sich Wolken zusammen.
Ich weiß nicht, was günstiger für uns ist, Trockenheit oder Regen. Der Regen erschwert das Gehen, verwischt aber unsere Spuren. Wieder einmal bewegen wir uns auf einem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, aber ich habe getan, was ich konnte, um Cassia zu schützen. Deswegen habe ich das Boot mitgenommen.
Ab und zu ist es sogar auf dem Land nützlich. Wo der Weg zu schlammig und zerklüftet ist, legen wir das Boot auf den Boden, gehen darüber und heben es wieder auf. Es hinterlässt Spuren wie längliche schmale Fußabdrücke auf dem Boden. Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich vielleicht lächeln. Was die Leute von der Gesellschaft wohl denken, wenn sie die Spuren entdecken? Dass etwas Riesiges gelandet ist, uns aufgehoben und aus der Schlucht getragen hat?
Heute Abend schlagen wir ein Lager auf. In der Nacht werden mir die richtigen Worte einfallen. Im Moment bin ich zu müde, um mir etwas auszudenken, was alles wiedergutmacht.
Wir müssen die Zeit aufholen, die wir gestern verloren haben. Keiner legt eine Rast ein. Wir marschieren pausenlos und trinken im Gehen rasch einen Schluck Wasser oder essen einen Bissen Brot. Wir haben die Ausläufer der Canyons fast erreicht, als die Dämmerung hereinbricht und es anfängt zu regnen.
Hunter bleibt stehen und setzt sein Ende des Bootes behutsam auf dem Boden ab. Ich folge seinem Beispiel. Er blickt zurück zu den Canyons hinter uns. Dann sagt er: »Wir sollten jetzt alle unserer Wege gehen.«
»Aber es ist schon fast dunkel«, erwidert Eli.
Hunter schüttelt den Kopf und sagt: »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Sobald sie herausgefunden haben, was in der Kaverne geschehen ist, wird nichts und niemand sie daran hindern, in unsere Schlucht einzudringen und die Verfolgung aufzunehmen. Und sie haben bestimmt Miniterminals. Sie könnten Verstärkung rufen, die uns auf der Ebene den Weg abschneidet.«
»Wo ist
Weitere Kostenlose Bücher