Cassia & Ky – Die Flucht
eigentlich unser Miniterminal?«, frage ich.
»Ich habe es in den Fluss geworfen, bevor wir von der Niederlassung aufgebrochen sind«, antwortet Cassia. Indie holt tief Luft.
»Gut!«, sagt Hunter. »Wir können nichts gebrauchen, was sie auf unsere Spur locken könnte.«
Eli erschauert.
»Kannst du noch?«, fragt Cassia ihn besorgt.
»Ich denke schon«, sagt Eli, sieht mich an und fragt: »Meinst du, wir sollten weitergehen?«
»Ja«, antworte ich.
»Ich habe die Stirnlampen«, fügt Indie hinzu.
»Dann los«, sagt Cassia und hilft uns, das Boot hochzuheben.
Wir eilen zum Flussufer, so schnell wir können. Unter meinen Füßen spüre ich die Steine, die der Fluss angespült hat. Ist auch der Steinfisch darunter, der Vicks Grab markiert? Im Dunkeln sieht alles anders aus, und ich bin mir nicht mehr sicher, wo er liegt.
Doch ich weiß, was Vick tun würde, wenn er noch am Leben wäre.
Das, von dem er geglaubt hätte, dass es ihn Laney so nahe wie möglich bringt.
Unter den Bäumen, im schwachen Licht einer gedimmten Stirnlampe, falten Hunter und ich das Boot auseinander und schließen die Pumpe an. Schnell nimmt es Form an.
»Es passen nur zwei Leute hinein«, sagt Hunter. »Die anderen, die sich auf den Weg zur Erhebung machen wollen, müssen dem Fluss zu Fuß folgen, was wesentlich länger dauert.«
Die Luft strömt seufzend ins Boot.
Für einen Moment stehe ich vollkommen reglos da.
Der Regen fällt wieder, eiskalt, prickelnd und klar. Doch im Vergleich zu dem peitschenden Sturm letzte Nacht ist es nur eine sanfte Dusche. Es wird bald wieder aufhören.
»Irgendwo weiter oben kommt der Regen als Schnee herunter«, pflegte meine Mutter zu sagen und die Tropfen in den hohlen Händen aufzufangen.
Ich denke an ihre Gemälde und daran, wie schnell sie getrocknet sind. »Irgendwo«, sage ich und hoffe, dass sie es hört, »ist dieses Wasser schwerelos. Leichter als Luft.«
Cassia wendet sich mir zu und sieht mich an.
Ich stelle mir vor, wie diese Regentropfen auf die Schuppen des Sandsteinfischs fallen, den ich für Vick gemeißelt habe.
Jeder Tropfen hilft dem vergifteten Fluss
, denke ich und breite meine Hände aus. Ich will die Tropfen nicht fangen oder versuchen, sie festzuhalten. Sie sollen ihre Spuren hinterlassen, und dann lasse ich sie gehen.
Ich lasse sie gehen. Meine Eltern und die Schmerzen darüber, was mit ihnen geschehen ist. Meine Versäumnisse. Die Menschen, die ich nicht retten oder begraben konnte. Meine Eifersucht auf Xander. Meine Schuldgefühle, weil Vick gestorben ist. Meine Besorgnis, nie der werden zu können, der ich gerne sein möchte, und meinen Kummer, nie gut genug gewesen zu sein.
Ich lasse alles zerrinnen.
Ich weiß nicht, ob ich es wirklich schaffen werde, meine Bürde gänzlich abzuwerfen, aber schon der Versuch allein tut gut. Also lasse ich die Regentropfen auf meine Hände prasseln. Sie über meine Finger in die Erde laufen.
Jeder Tropfen hilft mir
, denke ich. Ich lehne den Kopf in den Nacken und versuche, mich wieder dem Himmel zu öffnen.
Vielleicht war mein Vater der Grund dafür, warum all diese Menschen starben. Anderseits hat er ihnen geholfen, ihr Leben erträglich zu machen. Er gab ihnen Hoffnung. Früher glaubte ich, das sei nicht wichtig, aber ich habe mich geirrt.
Gut und schlecht. Gutes in meinem Vater, Schlechtes in mir. Kein Feuer, das auf mich regnet, kann das wegbrennen. Ich muss mich selbst davon befreien.
»Es tut mir leid«, sage ich zu Cassia. »Ich hätte dich niemals anlügen dürfen.«
»Mir tut es auch leid«, sagt sie. »Das Sortieren war ein großer Fehler.«
Wir sehen uns im Regen an.
»Das ist dein Boot«, sagt Indie und sieht mich an. »Wer fährt mit?«
»Ich habe es für dich eingetauscht«, sage ich zu Cassia. »Entscheide du, wer mit dir fahren soll.«
Ich fühle mich wieder wie vor dem Paarungsball. Ich warte. Und ich frage mich, ob das, was ich getan habe, ausreichen wird, damit sie mich wieder als den sieht, der ich bin.
Kapitel 46 CASSIA
»Ky«, seufze ich. »Ich kann nicht noch einmal Menschen sortieren.« Wie kann er so etwas von mir verlangen?
»Beeil dich!«, drängt Indie.
»Beim letzten Mal hast du es richtig gemacht«, sagt Ky. »Hier draußen gehöre ich hin.«
Das stimmt. Und obwohl die Suche nach ihm das Schwerste war, was ich je vollbracht habe, hat sie mich stärker gemacht.
Ich schließe die Augen und analysiere die relevanten Faktoren.
Hunter will in die Berge gehen, nicht den Fluss
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