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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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frischt er mit einem Stück Kreide aus seinem Rucksack die blauen Linien an seinen Unterarmen auf.
    »Ihr müsst bedenken, dass sich die Leute damals freiwillig für die Gesellschaft und ihre Kontrollsysteme entschieden haben, um einer globalen Erderwärmung vorzubeugen und von den Fortschritten in der Medizin zu profitieren. Wir wollten dieses Leben nicht und zogen fort. Da wir uns nicht der Gesellschaft unterordneten, genossen wir allerdings auch nicht deren Vorteile und deren Schutz. Wir bestellten das Land, hatten genug zu essen, lebten autark, und die Gesellschaft ließ uns in Ruhe. Lange Zeit blieb das so. Und wenn doch einmal Störenfriede von außen kamen, drängten wir sie zurück.«
    Hunter erzählt weiter: »Bevor alle ursprünglichen Dorfbewohner in den Äußeren Provinzen starben, kamen sie oft zu uns in die Canyons und baten uns um Hilfe. Sie erzählten uns, wie man sie fortgeschickt hatte, weil sie die falsche Person liebten oder sich einen anderen Beruf wünschten. Manche schlossen sich uns an, andere trieben mit uns Handel. Nach der Einführung der Hundert waren unsere Bücher und Dokumente unfassbar wertvoll geworden.« Er seufzt. »Leute wie die Archivare haben schon immer existiert, und ich bin mir sicher, dass es sie bis heute gibt. Aber unser Kontakt zu ihnen ist nach dem Tod der Dorfbewohner abgerissen.«
    »Warum habt ihr überhaupt Handel getrieben?«, fragt Eli. »Ihr hattet doch alles, was ihr braucht.«
    »Nein«, entgegnet Hunter, »eben nicht. Die Heilmittel der Gesellschaft waren viel wirksamer als unsere, und es gab noch manche andere Dinge, die wir brauchten.«
    »Aber wenn eure Dokumente so wertvoll sind«, lässt Eli nicht locker, »warum habt ihr dann so viele von ihnen zurückgelassen?«
    »Sie sind einfach zu zahlreich«, antwortet Hunter. »Wir konnten sie nicht alle über die Ebene tragen. Viele von uns haben einzelne Seiten herausgerissen oder ihre Lieblingsbücher mitgenommen. Aber alles konnten wir unmöglich transportieren. Deswegen musste ich die Höhle verschließen und den Rest verstecken. Wir wollten unbedingt verhindern, dass die Gesellschaft unseren Besitz zerstört oder wegschafft.«
    Er hört auf, seine Arme mit den Linien zu bemalen, und greift nach seinem Rucksack, um die Kreide wieder wegzupacken.
    »Was bedeuten diese Zeichnungen?«, frage ich, und er hält inne.
    »Was siehst du denn in ihnen?«, fragt er zurück.
    »Flüsse«, sage ich. »Venen.«
    Er nickt interessiert. »Sie gleichen beidem. So kann man sie verstehen.«
    »Aber was bedeuten sie für dich?«, bohre ich weiter.
    »Vernetzungen«, antwortet er.
    Verständnislos schüttele ich den Kopf.
    »Es sind Verbindungslinien«, erklärt er. »Wenn wir sie zeichnen, dann normalerweise zusammen, so.« Er streckt die Hand aus, so dass sich unsere Finger berühren. Beinahe wäre ich überrascht zurückgewichen, aber ich halte still. Er fährt mit der Kreide seine Finger entlang und dann über meine. Von dort aus zieht er die blaue Kreide sanft meinen Arm hinauf.
    Er lehnt sich zurück. Wir sehen einander an. »Anschließend würdest du die blauen Striche selbst fortsetzen«, erklärt er. »An deinem Körper entlang, und dann würdest du jemand anderen berühren und eine neue Verbindung schaffen. Und so weiter.«
    Aber wenn die Verbindung abreißt?
, geht es mir durch den Kopf.
Zum Beispiel, als deine Tochter gestorben ist?
    »Wenn kein anderer für die Verbindungslinien da ist«, sagt er, »macht man es so.« Er steht auf und stützt die Hand gegen die Sandsteinwand des Überhangs. Ich stelle mir vor, wie sich ein sternförmiges Muster feiner Risse von den Berührungspunkten aus verbreitet. »Dann verbindet man sich mit irgendetwas.«
    »Aber die Felsen sind doch leblos«, entgegne ich. »Die Canyons können nichts empfinden.«
    »Da hast du recht«, stimmt Hunter mir zu. »Dennoch sind wir miteinander verbunden.«
    »Ich habe dir etwas mitgebracht«, sage ich zu Hunter und greife in meinen Rucksack. Ich fühle mich ein wenig unsicher. »Ich dachte, dir würde vielleicht etwas daran liegen.«
    Es ist das Gedicht mit den Versen, die er als Sarahs Grabspruch gewählt hat.
    Ich habe die Seite aus dem Buch herausgetrennt.
    Hunter nimmt sie und liest vor:
    »Sie fielen wie Flocken, sie fielen wie Sterne,
    Wie Blüten von einem Rosenstrauch,
    Als plötzlich durch den Juni fährt
    Mit Fingern ein kalter … Hauch …«
    Er hält inne.
    »Das klingt genau wie das, was wir in den Dörfern erlebt haben«, sagt Eli.

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