Cassia & Ky – Die Flucht

beide, dass die Gesellschaft die Aberrationen ausrotten will. Das erklärt, warum wir hier draußen ausgesetzt werden. Warum wir nicht kämpfen dürfen. Doch das alles führt noch zu einer anderen Frage, die ich bisher nicht beantworten kann:
    Warum hassen sie uns so sehr?

    Wir können nicht sehen, wohin wir fliegen. Das Flugschiff hat keine Fenster, außer im Cockpit.
    Daher stelle ich erst beim Aussteigen fest, wo wir sind.
    Das Dorf selbst kenne ich nicht, aber die Gegend. Das Feld, das wir überqueren, ist mit orangefarbenem Sand und schwarzen Steinen bedeckt und mit verdorrten gelblichen Pflanzen überwuchert, die im Sommer einmal grün waren. Solche Felder gibt es überall in den Äußeren Provinzen, aber ich erkenne anhand anderer Zeichen, wo wir sind.
    Ich bin zu Hause.
    Es tut weh.
    Dort am Horizont – das Wahrzeichen meiner Kindheit.
    Die Canyons.
    Von unserem Standpunkt aus kann ich nicht alles erkennen – nur vereinzelte Felsen aus rotem oder orangefarbenem Sandstein, die hier und da aufragen. Wenn man jedoch näher herantritt – wenn man den Rand erreicht und in die Schluchten hinunterblickt –, sieht man, dass die Felsen nicht klein sind, sondern die Gipfel von richtigen Bergen.
    Die Canyons bestehen aus mehreren Schluchten, aus einem ganzen Labyrinth ineinandergreifender Formationen, das sich meilenweit erstreckt. Die Landschaft wogt hinauf und hinunter wie Meereswellen, mit hohen, zerklüfteten Felsen und tiefen Schluchten, gemustert in den Farben der Äußeren Provinzen, Orange, Rot und Weiß in allen Schattierungen. In den fernen Ausläufern der Canyons werden die Feuerfarben des Sandsteins vom Blau der Wolken am Horizont überschattet.
    All das weiß ich, weil ich mehrmals am Rand gewesen bin.
    Aber nie war ich im Inneren.
    »Was grinst du so?«, fragt mich Vick, aber noch bevor ich antworten kann, kommt der Junge, der wie Bram aussieht, auf uns zu und baut sich genau vor Vick auf.
    »Ich heiße Eli«, stellt sich der Junge vor.
    »Okay«, sagt Vick und wendet sich dann wieder gereizt der Reihe von Gesichtern zu, die ihn zum Führer auserkoren haben, obwohl er sich nie um diese Rolle gerissen hat. Manche Menschen sind die geborenen Anführer, es liegt ihnen im Blut, in den Knochen und in den Gehirnzellen, es gibt kein Entrinnen.
    Und manche Menschen sind von Natur aus Mitläufer.
    Deine Überlebenschancen sind höher, wenn du ihnen folgst
, ermahne ich mich.
Vater hielt sich für einen Anführer. Er konnte gar nicht genug von seiner Aufgabe bekommen, und sieh dir an, was aus ihm geworden ist.
Ich stehe einen Schritt hinter Vick.
    »Willst du keine Rede für uns halten oder so?«, fragt Eli. »Wir sind schließlich gerade neu angekommen.«
    »Für diesen Mist hier bin ich nicht zuständig«, murrt Vick. Da haben wir’s: Der Zorn, den er meistens mit aller Macht unterdrückt, kommt zum Vorschein. »Ich kann nicht für die Gesellschaft sprechen.«
    »Aber du bist der Einzige mit so etwas«, erwidert Eli und zeigt auf das Terminal an Vicks Gürtel.
    »Ihr wollt eine Rede?«, fragt Vick, und alle neuen Jungen nicken und starren ihn an. Sie haben denselben Vortrag wie wir gehört, als sie uns in den Flugschiffen hierhergebracht haben: wie bedeutsam es für die Gesellschaft ist, dass wir uns wie Dorfbewohner, wie Zivilisten benehmen, um den Feind aus der Reserve zu locken. Dass es nur für sechs Monate ist und nach unserer Rückkehr in die Gesellschaft unser Status als Aberration gelöscht werden wird.
    Es wird genau einen Tag unablässiger Angriffe dauern, ihnen klarzumachen, dass niemand jemals sechs Monate durchgehalten hat. Nicht mal Vick hat annähernd so viele Kerben in seinen Stiefeln.
    »Macht es genau wie wir«, rät ihnen Vick. »Benehmt euch wie Dorfbewohner, deswegen sind wir hier.« Er legt eine Kunstpause ein. Dann zieht er das Terminal vom Gürtel und wirft es einem Lockvogel zu, der schon ein paar Wochen hier ist. »Hier, lauf damit weg«, sagt er. »Aber sieh zu, dass es bis zur Dorfgrenze noch funktioniert.«
    Der Junge rennt los. Sobald das Terminal außer Reichweite ist, fährt Vick fort: »Die Munition ist nicht echt. Also versucht gar nicht erst, euch damit zu verteidigen.«
    Eli unterbricht ihn empört: »Aber wir haben damit im Trainingslager das Schießen geübt!« Unwillkürlich muss ich grinsen, obwohl mir eigentlich davon übel werden sollte, dass ein solches Kind hier draußen gelandet ist. Er ähnelt Bram wirklich sehr.
    »Wie auch immer«, sagt Vick. »Jetzt habt