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Ein Toter fuehrt Regie

Ein Toter fuehrt Regie

Titel: Ein Toter fuehrt Regie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Bosetzky , -ky
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    Heute wirst du sterben.
    Der Gedanke war da, als die letzten Töne des Weckers unregelmäßig zerfielen, war da wie ein Funke, den der Organismus benötigte, um anzuspringen. Aus den Tiefen des Unbewußten hervorgeschleudert, ließ er Brockmüller hellwach werden. Diesmal hatten ihn keine Träume hochschrecken lassen, in denen er in brennenden Flugzeugen abgestürzt und von berstenden Bomben zerfetzt worden war, diesmal weckte ihn dieser Gedanke, diese Stimme, die sich in seinem Kopf verfangen hatte.
    Heute wirst du sterben.
    Brockmüller drehte den Kopf herum, um auf dem dunklen Zifferblatt zu erkennen, was kleiner und was großer Zeiger war. Zehn Minuten vor sechs… Gestellt hatte er das Dings auf fünf nach sechs. Wieder ein Haufen Schlaf verschenkt. Was diese Apparate an Toleranzen hatten, war eine echte Schweinerei. Das frühe Aufstehen machte ihn fertig.
    Es ist ja dein letzter Morgen.
    Diese Todesahnungen! Seit Annelie schwanger war, wurde er von der Vorstellung gequält, daß er sterben mußte, bevor sein Kind geboren war. Egal ob Alexander oder Anna-Lena – er würde ihn beziehungsweise sie nie zu sehen bekommen. Er kam nicht mehr los davon, das war zwanghaft. Er war Betriebswirt, aber daß man so was Zwangsneurose nannte, wußte er. Doch wenn er sich damit zum Psychiater wagte und sein Personalchef erfuhr davon, erging’s ihm noch wie Senator Eagleton: für Führungsaufgaben ungeeignet.
    Heute wirst du sterben.
    Zum Verrücktwerden war das! Ließ sich denn dieser verdammte Sender da im Kopf nicht abstellen!? Dr. Weiß hatte ihm Valium verschrieben, aber was half Valium gegen Todesahnungen? Es war ja auch kein Wunder, daß er langsam durchdrehte: Keine Nacht mehr als fünf Stunden Schlaf und dabei noch dreimal wach. Entweder er schnarchte und Annelie drehte ihn auf die Seite, oder Annelie mußte auf die Toilette, weil das Kind auf die Blase drückte, und er schreckte hoch, wenn sie aufstand. Mal zog er ins Wohnzimmer auf die Couch, mal sie, aber ohne den anderen neben sich konnten sie erst recht nicht schlafen, so daß zehn Minuten nach dem Umzug die Rückkehr folgte.
    Er richtete sich auf. Annelie sah zauberhaft aus, so richtig Dornröschen. Sie konnte ausschlafen, sie hatte schon ihre Schutzfrist. Zehn nach sechs – raus! Sonst kam er wieder zu spät, und Kuhring machte seine dummen Bemerkungen über die Herren Doktoren, die es nicht nötig hätten. Dazu hatte er nun zehn Jahre lang studiert, gratuliere! Gähnend setzte er die Füße auf den Bettvorleger, beide zugleich.
    Was nun ablief, hatte die Herren Taylor und Gilbreth, die Väter des Scientific Management, lebten sie noch, in Begeisterung versetzt. Brockmüller, der sich sowohl in seiner Diplom- als auch in seiner Doktorarbeit mit den optimalen Bedingungen für den Einsatz von Arbeitskraft befaßt hatte, war es nach achtmonatigen Versuchen gelungen, für all seine morgendlichen Verrichtungen den einzig richtigen, nämlich zeitsparendsten Weg zu finden. Seine Arbeitsoperationen waren, wenn auch nur im Kopf – klar in 35 Hauptpositionen gegliedert: 1. Schlafanzug ausziehen und aufs Bett werfen; 2. Schlafzimmer verlassen und Tür leise schließen, um Annelie nicht zu wecken; 3. in die Küche gehen, Vorhang aufziehen und Butter aus dem Kühlschrank nehmen, damit sie sich nachher mühelos aufs Brot streichen ließ; 4. ins Bad gehen, Tür schließen, um Annelie nicht durch rauschendes Wasser zu stören, und Vorhang zurückziehen; 5. den Transistorapparat einschalten und das RIAS-Frühprogramm hören; 6. Zähneputzen… und so weiter: Duschen – Rasieren – Ankleiden – Frühstücken – Aufbrechen; Position 35 hieß Auto aufschließen, einsteigen und losfahren.
    Er schaffte es jeden Morgen in genau dreißig Minuten, Tag für Tag, vom Moment des Aufstehens an gerechnet, und ohne zu hetzen. Wenn er dennoch des öfteren zu spät kam, lag das lediglich daran, daß er manchmal nach dem Klingeln des Weckers wieder einschlief – keine Wissenschaft hat alle Variablen voll unter Kontrolle. Doch heute hatte er – ein Blick auf die Uhr und eine kurze Erinnerung an den Moment des Aufstehens – 32 Minuten und 55 Sekunden gebraucht. Das beunruhigte ihn. Ein böses Omen…?
    Heute wirst du sterben.
    Verdammt, er kam von diesem Gedanken nicht mehr los! Wenn das nicht besser werden sollte, müssen wir Sie mal einem Nervenarzt vorstellen, hatte Dr. Weiß gesagt. Und noch sechs Wochen, bis Alexander oder Anna-Lena geboren war. Endstation

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