Cassia & Ky – Die Flucht
dass es in den Schluchten der Äußeren Provinzen vor Anomalien nur so wimmelt«, erwidert Vick.
»Ja, ich weiß«, gebe ich zu. »Aber einige von ihnen haben eine Niederlassung gegründet und helfen Reisenden. Das habe ich von Leuten erfahren, die dort gewesen sind.«
»Mach mal langsam. Du kennst Leute, die in den Schluchten gewesen sind?«, fragt Vick verblüfft.
»Ich
kannte
Leute, die darin waren«, berichtige ich ihn.
»Leute, denen du vertrauen konntest?«
»Mein Vater«, sage ich in einem Ton, der jede weitere Frage von vornherein abblockt. Vick nickt.
Wir gehen ein paar Schritte weiter. »Und wann geht’s los?«, fragt er dann.
»Das ist der springende Punkt«, antworte ich und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert ich bin, dass er mitkommt. Ich möchte nicht alleine in diese Schluchten hinabsteigen. »Wenn wir nicht wollen, dass die Gesellschaft uns erwischt und ein Exempel an uns statuiert, wäre es am besten, wenn wir während eines Angriffs aufbrechen würden, wenn Chaos herrscht. Am besten während eines nächtlichen Angriffs. Aber bei Vollmond, damit wir genug sehen können. Dann haben wir gute Chancen, dass man uns für tot hält und nicht nach uns sucht.«
Vick lacht. »Sowohl die Gesellschaft als auch der Feind haben Infrarotsuchgeräte. Wer immer über uns ist, wird uns laufen sehen.«
»Ich weiß. Aber wie leicht kann man in der Panik und im Gewimmel drei kleine Gestalten übersehen?«
»Drei? Warum drei?«, fragt Vick.
»Weil Eli mitkommt.« Es ist raus, bevor ich lange überlegen konnte.
Schweigen.
»Du spinnst«, sagt Vick. »Der Junge wird auf keinen Fall so lange überleben.«
»Kann schon sein.« Vick hat recht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Eli fällt. Er ist klein. Er ist impulsiv. Er stellt zu viele Fragen. Andererseits ist es für uns alle nur eine Frage der Zeit.
»Warum willst du ihn dann mitschleppen?«
»Ich kenne ein Mädchen in Oria«, sage ich. »Und er erinnert mich an ihren Bruder.«
»Das ist kein triftiger Grund.«
»Für mich schon«, entgegne ich.
Wir schweigen beide.
»Du zeigst Schwäche«, stellt Vick schließlich fest. »Das könnte tödlich für dich enden. Könnte sein, dass du sie nie wiedersiehst.«
»Wenn ich mich nicht um ihn kümmern würde«, entgegne ich Vick, »wäre ich nicht der Mann, den sie wiedersehen wollte.«
Kapitel 6 CASSIA
Als ich tiefes, gleichmäßiges Atmen im ganzen Raum höre und sicher bin, dass die anderen schlafen, rolle ich mich auf die Seite und ziehe das Dokument des Archivisten aus meiner Tasche.
Das Papier fühlt sich holzig und billig an, nicht so wie das schwere, cremefarbene Blatt mit Großvaters Gedichten. Es ist alt, aber nicht so alt wie Großvaters Papier. Mein Vater könnte es möglicherweise datieren, aber er ist nicht hier, er hat mich gehen lassen. Als ich das Papier vorsichtig auseinanderfalte, knistert es leise. Trotzdem kommt mir das Geräusch sehr laut vor, und ich hoffe, dass die anderen Mädchen glauben, es sei das Rascheln von Bettdecken oder das Sirren eines Insekts.
Heute hat es lange gedauert, bis alle eingeschlafen sind. Als ich von meinem Treffen mit Xander zurückgekehrt bin, haben die anderen mir erzählt, dass bisher keine von uns ihre Versetzungsorder erhalten hat. Der Wächter habe gesagt, man würde uns am nächsten Morgen unsere neuen Aufenthaltsorte mitteilen. Ich verstand das Unbehagen der Mädchen – mir geht es genau wie ihnen. Bisher haben wir immer am Vorabend erfahren, wohin wir am nächsten Tag geschickt wurden. Warum diese Änderung? Die Gesellschaft tut nichts ohne Grund.
Ich halte das Blatt in einen schmalen Strahl weißen Mondlichts. Mein Herz schlägt schnell, obwohl ich reglos daliege.
Hoffentlich ist es seinen Preis wert!
, flehe ich insgeheim und werfe dann einen Blick auf das Papier.
Nein.
Ich presse die Faust auf den Mund, um im stillen Schlafsaal nicht laut aufzustöhnen.
Es ist keine Landkarte, nicht einmal eine Wegbeschreibung.
Es ist eine Geschichte, und schon beim Lesen der ersten Zeile weiß ich, dass es keine der Hundert ist:
Ein Mann wälzte einen Felsen den Berg hinauf. Als er den Gipfel erreichte, rollte der Stein wieder hinunter an den Fuß des Berges, und er begann von vorn. Die Leute im nahen Dorf wussten davon. Sie glaubten, es sei eine Strafe. Nie leisteten sie ihm Gesellschaft oder halfen ihm, denn sie fürchteten jene, die die Strafe verhängt hatten. Er wälzte. Sie sahen zu.
Jahre später bemerkte eine neue
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