Cassia & Ky – Die Flucht
ihr nur noch Übungsmunition.«
Eli schluckt, stellt dann aber gleich die nächste Frage. »Wenn das hier ein Dorf ist, wo sind dann die Frauen und Kinder?«
»Du bist ein Kind«, erwidert Vick.
»Bin ich nicht!«, wehrt sich Eli. »Und vor allem kein Mädchen. Wo sind die denn alle?«
»Hier gibt’s keine Mädchen«, sagt Vick. »Und keine Frauen.«
»Aber dann muss der Feind doch wissen, dass wir keine echten Dorfbewohner sind«, wendet Eli ein. »Das müssen sie doch inzwischen rausbekommen haben.«
»Bestimmt«, pflichtet Vick ihm bei. »Aber sie bringen uns trotzdem um. Egal, wer wir sind. Und jetzt an die Arbeit. Wir müssen so tun, als seien wir Bauern in einem Dorf. Also raus aufs Feld!«
Wir ziehen los auf die Felder. Die Sonne brennt heiß. Ich kann Elis wütenden Blick förmlich spüren.
»Wenigstens haben wir hier genug Wasser«, sage ich zu Vick und zeige auf die volle Feldflasche. »Dank dir.«
»Nichts zu danken.« Vick senkt die Stimme. »Es ist ja nicht mal genug zum Ertrinken.«
Wir bauen Baumwolle an, obwohl sie in dieser Gegend kaum gedeiht. Die Fasern im Inneren der Baumwollkapseln sind von schlechter Qualität und halten nicht zusammen.
»Kein Wunder, dass es keine Rolle spielt, ob es hier Frauen oder Kinder gibt«, murrt Eli hinter mir. »Der Feind sieht doch auf den ersten Blick, dass das hier kein richtiges Dorf ist. Niemand wäre so dumm, hier Baumwolle anzubauen.«
Zunächst antworte ich ihm nicht. Bisher habe ich mich nicht dazu hinreißen lassen, während der Arbeit mit jemandem zu reden, außer mit Vick. Ich habe mich stets abseits von den anderen gehalten.
Doch Eli hat mich in einem schwachen Moment erwischt. Die Baumwolle heute und der Schnee gestern haben mich wieder an Cassias Geschichte von den Pappelsamen im Juni erinnert. Die Gesellschaft hasst Pappeln, doch genau diese Bäume sind ideal für die Äußeren Provinzen. Das Holz lässt sich gut schnitzen. Wenn ich eine Pappel fände, würde ich in die Rinde ihren Namen ritzen, so wie ich auf dem Hügel meinen Namen auf ihre Hand schrieb.
Ich rede nun doch mit Eli, um mich nicht in Erinnerungen an das Unerreichbare zu verlieren.
»Kann schon sein, dass das dumm ist«, erwidere ich ihm, »aber zumindest realistischer als manches andere, was die Gesellschaft schon angestellt hat. Einige der Dörfer hier waren ursprünglich Landwirtschaftskooperativen für Aberrationen, und die Bewohner mussten auch Baumwolle anbauen. Damals gab es hier noch mehr Wasser. Es ist also nicht völlig unmöglich, das Land hier zu bewirtschaften.«
»Oh«, sagt Eli nur und schweigt. Ich weiß nicht, warum ich versuche, ihm Hoffnung zu geben. Vielleicht, weil ich an die Pappelsamen denken musste.
Oder an sie.
Als ich mich später noch einmal umblicke, sehe ich, dass Eli weint, aber Tränen reichen nicht, um darin zu ertrinken, also unternehme ich im Moment noch nichts.
Auf dem Rückweg ins Dorf gebe ich Vick mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ich ohne Terminal mit ihm reden möchte. »Hier«, sagt er und wirft Eli, der inzwischen aufgehört hat zu weinen, das Gerät zu. »Lauf damit ein Stück.« Eli nickt und rennt davon.
»Was ist los?«, fragt Vick.
»Ich bin hier in der Nähe aufgewachsen«, erkläre ich so unbewegt wie möglich. Diese Gegend war einmal meine Heimat, und ich bin entsetzt über das, was die Gesellschaft daraus gemacht hat. »Mein Dorf lag nur wenige Kilometer entfernt. Ich kenne mich hier gut aus.«
»Du willst also fliehen?«, fragt Vick.
Da ist sie. Die große Frage. Die, die wir uns selbst unablässig stellen.
Will ich fliehen?
Darüber habe ich jeden Tag, jede Stunde nachgedacht.
»Denkst du darüber nach, in dein Dorf zurückzukehren?«, fragt Vick. »Kann dir dort jemand helfen?«
»Nein«, erwidere ich. »Es existiert nicht mehr.«
Vick schüttelt den Kopf. »Dann hat es keinen Sinn, zu flüchten. Wir werden nicht weit kommen.«
»Aber der nächste Fluss ist zu weit entfernt«, erkläre ich ihm. »So können wir auch nicht fliehen.«
»Aber wie sonst?«, fragt Vick.
»Wir gehen durch die Berge.«
Vick dreht sich um. »Durch die Berge?«
»Die Schluchten«, erkläre ich und zeige auf die Canyons nicht weit von uns. Sie sind weit verzweigt, viele Kilometer lang und von zahlreichen kleinen Seitenabzweigungen durchbrochen, die man von hier aus nicht erkennen kann. »Wenn wir weit genug hineinwandern, werden wir Trinkwasser finden.«
»Aber die Wachleute haben uns schon hundert Mal erklärt,
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