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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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Generation, dass der Mann und sein Stein allmählich im Berg versanken, so wie Sonne und Mond am Horizont untergingen. Sie konnten den Mann, der den Stein zum Berggipfel hinaufrollte, kaum noch erkennen.
    Ein Mädchen wurde neugierig und wanderte den Berg hinauf. Als sie sich dem Mann näherte, sah sie zu ihrem Erstaunen, dass der Stein mit Namen, Daten und Ortsnamen bedeckt war.
    »Was haben diese Worte zu bedeuten?«, fragte das Kind.
    »Das sind die Sorgen der Welt«, antwortete der Mann. »Ich wälze sie immer wieder den Berg hinauf.«
    »Sie benutzen sie, um den Berg auszuhöhlen«, stellte das Kind fest, als es die tiefe Furche betrachtete, die der Stein hinterlassen hatte.
    »Ich erschaffe etwas«, entgegnete der Mann. »Wenn ich fertig bin, bist du an der Reihe, meinen Platz einzunehmen.«
    Das Mädchen hatte keine Angst. »Was erschaffen Sie?«, fragte es.
    »Einen Fluss«, sagte der Mann.
    Das Kind ging den Berg hinunter und fragte sich, wie man einen Fluss erschaffen konnte. Doch nicht lange darauf, als die Regenzeit einsetzte, die Flut durch die Furche schoss und den Mann mit sich riss, übernahm sie seine Aufgabe, rollte den Stein und wies den Sorgen der Welt ihren Platz und Weg.
    Das ist die Entstehungsgeschicht des Steuermanns.
    Der Steuermann ist ein Mensch, der einen Stein wälzte und vom Wasser fortgerissen wurde. Der Steuermann ist jemand, der den Fluss überquerte, indem er sich von den Gestirnen leiten ließ. Der Steuermann hat kein Alter. Seine Augen und seine Haare schimmern in jeder erdenklichen Farbe. Er lebt in Wüsten, auf Inseln, in Wäldern, auf Bergen und in den Ebenen.
    Der Steuermann führt die Erhebung an – die Erhebung gegen die Gesellschaft – und der Steuermann stirbt nie. Wenn die Zeit eines Steuermanns vorüber ist, übernimmt ein anderer seine Aufgabe.
    Und so geht es immer weiter, wie ein Stein, der immerfort rollt.
    Eine Mitbewohnerin wälzt sich im Bett herum, und ich erstarre. Ich warte darauf, dass ihr Atem wieder ruhig und gleichmäßig geht, so dass ich davon ausgehen kann, dass sie schläft. Als es so weit ist, lese ich die letzte Zeile auf der Seite:
    An einem Ort jenseits der Grenzen auf der Landkarte der Gesellschaft wird der Steuermann ewig leben und lenken.
    Ein heißer, schmerzender Stich der Hoffnung durchfährt mich, als ich die wahre Bedeutung des Satzes und die Größe dieses Geschenks erkenne.
    Es gibt eine Erhebung. Eine echte, organisierte, dauerhafte Bewegung, mit einem Anführer.
    Ky und ich sind nicht alleine!
    Das Wort
Steuermann
war das Stichwort. Hat Großvater davon gewusst? Hat er mir deshalb vor seinem Tod das Blatt Papier gegeben? Habe ich mich die ganze Zeit in dem Gedicht getäuscht, das sein Vermächtnis an mich war?
    Ich kann nicht länger stillsitzen.
    »Wach auf«
, flüstere ich so leise, dass ich meine eigene Stimme kaum höre. »Wir sind nicht allein.« Ich schwinge ein Bein über den Bettrand. Ich könnte hinunterklettern, die anderen Mädchen wecken und ihnen von der Erhebung erzählen. Vielleicht wissen sie sogar schon davon. Nein, ich glaube nicht. Alle wirken so hoffnungslos. Alle, außer Indie. Doch obwohl sie mehr Temperament hat als die anderen, scheint sie kein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Nein, bestimmt weiß sie auch nichts.
    Ich sollte Indie davon erzählen.
    Ich mache mich gleich auf den Weg zu ihr. Leise treffen meine Füße auf dem Boden auf, als ich das Ende der Leiter erreiche, und schon will ich sie ansprechen. Da höre ich, dass eine Wächterin an unserer Tür vorbeigeht, und halte mitten in der Bewegung inne. Das gefährliche Blatt Papier halte ich wie eine weiße Fahne in der Hand.
    Nein, besser, ich erzähle den anderen nichts davon. Ich werde tun, was ich immer tue, wenn mir jemand gefährliche Worte anvertraut:
    Ich zerstöre sie.

    »Was machst du da?«, fragt mich Indie leise.
    Ich habe sie nicht kommen hören. Beinahe wäre ich vor Schreck zusammengezuckt, aber ich kann mich noch rechtzeitig beherrschen.
    »Ich wasche mir noch mal die Hände«, flüstere ich und widerstehe dem Impuls, mich umzudrehen. Das eisige Wasser strömt über meine Finger und rauscht in der Stille der Unterkunft wie ein Fluss. »Vorhin habe ich sie nicht ganz sauber bekommen. Du weißt doch, wie sich die Wachleute anstellen, wenn die Bettwäsche schmutzig wird.«
    »Du weckst die anderen auf«, murrt sie. »Dabei konnten sie sowieso schon kaum einschlafen.«
    »Tut mir leid«, sage ich und meine es ehrlich. Aber mir ist keine andere

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