Cathérine de Montsalvy
Entsetzen sah sie sich im Obstgarten von Chinon wieder in die Arme Pierre de Brézés fallen und verfluchte sich wütend. Mit welchem unmenschlichen Preis mußte sie diesen Augenblick der Tollheit bezahlen?
Sie hob den Kopf, sah sich allein in diesem geschlossenen Raum, eingefangen wie in einem Spinnennetz. Ihr verstörter Blick irrte von der Tür zum Fenster. Sie mußte fliehen, auch sie, mußte sich an die Verfolgung Arnauds machen! Sie brau Ate ein Pferd, sofort, das schnellste Pferd … Sie mußte über Mauern, über Ebenen, über Gebirge fliegen … Sie mußte ihn finden! Das war es, ihn finden, koste es, was es wolle, sich ihm zu Füßen werfen, seine Verzeihung erflehen und ihn nicht mehr verlassen … nie mehr!
Wie eine Wahnsinnige stürzte sie zur Tür, stieß sie auf und rief:
»Saturnin! Saturnin! … Pferde!«
Der alte Mann eilte herbei, voller Sorge, als er die in Tränen aufgelöste Frau mit den roten, brennenden Augen gewahrte.
»Dame! Was habt Ihr?«
»Ich möchte ein Pferd, Saturnin … und zwar sofort! Ich muß fort … ich muß ihn wiederfinden!«
»Dame Cathérine, es dunkelt schon, die Tore werden geschlossen … Wo wollt Ihr hin?«
»Ihn finden, meinen Herrn … Arnaud!«
Sie hatte verzweifelt den vielgeliebten Namen hinausgeschrien. Saturnin schüttelte den Kopf und trat zu der jungen Frau. Noch nie hatte er sie so blaß, so erschüttert gesehen.
»Ihr zittert! … Kommt mit mir. Ich werde Euch ins Kloster zurückbringen! Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber heute abend könnt Ihr nichts mehr tun. Ihr braucht Ruhe.«
Er hob das Pergament auf, legte es ihr wie einem Kind in die Hände und zog sie sanft hinaus. Gleich einer Schlafwandlerin ließ sie es geschehen, protestierte aber trotzdem wie aus der Tiefe eines Traums.
»Ihr versteht nicht, Saturnin! Ich muß ihn einholen … Er ist schon weit fort … und für immer!«
»Er war schon vorher für immer fort, Dame Cathérine! An einem Ort, von dem man nicht wiederkehrt. Kommt mit mir. Im Kloster sind Dame Isabelle, Gauthier, Sara … Sie lieben Euch, sie werden Euch helfen, wenn sie Euch in dieser großen Not sehen werden. Kommt, Dame Cathérine …«
Die frische Abendluft tat der jungen Frau gut und gestattete ihr, sich wieder ein wenig zu fassen. Vom Arm Saturnins gestützt, vermochte sie während des kurzen Weges ihr Hirn zu zwingen, den wahnwitzigen Gedankenwirbel zu beenden, sich zu beruhigen. Mußte sie sich nicht beschwichtigen, mußte sie nicht so vernünftig und kalt denken wie möglich? Saturnin hatte recht, wenn er sagte, Sara und Gauthier würden ihr helfen … Aber es war unumgänglich, daß sie ihre Nerven in der Gewalt hatte, daß sie versuchte, nicht mehr zu denken, Arnaud habe sich für immer von ihr getrennt, habe das Band, das sie noch vereinte, zerschnitten …
Sie richtete sich auf, bemühte sich, vor den Leuten, die sie auf der Straße traf, Haltung zu bewahren. Doch als sie im Kloster ankamen, trafen Cathérine und Saturnin den Abt persönlich in der Loge des Bruders Pförtner an …
»Ich wollte Euch schon suchen gehen, Dame Cathérine«, sagte er. »Eure Mutter hat einen Rückfall gehabt und das Bewußtsein verloren …«
»Dabei ging es ihr vorhin doch so gut!«
»Ich weiß. Wir sprachen ruhig miteinander, doch plötzlich sank sie in die Kissen zurück, der Atem ging kurz … Sara ist bei ihr und unser Bruder Apotheker.«
Cathérine war gezwungen, ihren eigenen Schmerz zum Schweigen zu bringen, während sie an das Krankenbett der alten Frau eilte. Tapfer schob sie den fatalen Brief in ihren Almosenbeutel und ging zu Isabelle hinein. Die Kranke lag immer noch regungslos auf ihrem Lager, über sie gebeugt, versuchte Sara, sie wiederzubeleben, indem sie sie scharfen Duft eines Fläschchens einatmen ließ, während der Bruder Apotheker ihr die Schläfen mit einem belebenden Wasser einrieb. Cathérine beugte sich hinunter:
»Geht es ihr sehr schlecht?«
»Sie kommt wieder zu sich!« flüsterte Sara mit gerunzelter Stirn. »Aber ich habe wahrhaftig geglaubt, es gehe zu Ende.«
»Auf jeden Fall«, meinte der Mönch, »wird sie es nicht mehr lange machen. Sie hält sich nur mit Mühe aufrecht.«
In der Tat kam Isabelle mählich wieder zu sich. Mit einem erleichterten Seufzer richtete Sara sich auf und lächelte Cathérine zu, doch ihr Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen.
»Aber … du bist ja blasser als sie! Was ist denn passiert?«
»Ich weiß, wo Arnaud ist!«
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