Cathérine de Montsalvy
es gab an diesem Abend weder Gesänge noch Tänze. Der Himmel war den ganzen Tag über mit dicken schwarzen Wolken verhangen gewesen. Eine für die Jahreszeit ungewöhnliche Wärme hatte eingesetzt. Es sah nach Gewitter aus, und die bedrückte Cathérine fand es schwierig, die feuchte, schwere Luft zu atmen. Sie hatte die zu fette Suppe, deren starker Geruch ihr Übelkeit verursachte, kaum angerührt und wollte wieder in den Karren zurück, um sich schlafen zu legen, als Tereina am Feuer erschienen war. Ein Stück dunkelrotes Tuch umhüllte ihren mißgestalteten Körper, und ihr blasses Gesicht, das sich aus dem Dunkel abhob, ähnelte dem eines Gespenstes. Sara wies schon mit der Hand auf einen Platz neben sich, aber das junge Mädchen hatte nur Cathérine angesehen.
»Mein Bruder möchte dich sprechen, Tchalaï! Ich werde dich zu ihm führen!«
»Was will er von ihr?« fragte Sara schnell.
»Wer bin ich, ihn danach zu fragen? Der Anführer befiehlt, man muß ihm gehorchen!«
»Ich komme mit!«
»Fero hat gesagt, Tchalaï allein. Er hat nicht gesagt, Tchalaï und Sara! Komm, meine Schwester. Er wartet nicht gern.«
Das junge Mädchen trat einen Schritt zurück und tauchte wieder in den Schatten. Worauf Cathérine wortlos dem kleinen roten Gespenst folgte. Eine hinter der anderen, durchquerten sie gut die Hälfte des stillen Lagers. Die Feuer verloschen schon langsam, und die Zigeuner zogen sich zur Ruhe zurück. Die Nacht war dunkel, und man konnte nicht viel sehen. Plötzlich, als der im Innern von einer Öllampe erleuchtete Karren mit Scheibenrädern, der dem Anführer als Unterkunft diente, nur noch ein paar Schritte entfernt war, blieb Tereina stehen und drehte sich zu Cathérine um, die im Schatten die großen Augen der Zigeunerin blitzen sah.
»Tchalaï, meine Schwester, du weißt, daß ich dich liebe«, sagte sie ernst.
»Ich glaube es wenigstens! Du bist immer gut zu mir gewesen.«
»Weil ich dich liebe. Aber heute abend möchte ich's dir beweisen. Da … nimm das und trinke!«
Sie hatte aus ihrem Kleid ein Fläschchen gezogen und gab es, das noch ganz warm von ihrer eigenen Körperwärme war, Cathérine in die Hand.
»Was ist's?« fragte die junge Frau, plötzlich mißtrauisch.
»Etwas, was du dringend brauchst. Ich habe in dir gelesen, Tchalaï. Dein Herz ist kalt wie das Herz einer Toten, und ich will, daß dein Herz wieder aufwacht. Mit dem, was ich dir hier gebe, wird dein Herz wieder leben. Trinke ohne Zögern … es sei denn, du mißtraust mir …«, fügte sie mit so viel Trauer in der Stimme hinzu, daß Cathérine ihr Mißtrauen schwinden fühlte.
»Ich mißtraue dir nicht, Tereina, aber warum heute abend?«
»Weil du es heute abend brauchen wirst. Trinke ohne Furcht. Es sind wohltuende Kräuter. Du wirst weder Müdigkeit noch Mutlosigkeit empfinden. Ich habe diese Mischung für dich zusammengestellt … weil ich dich liebe.«
Etwas Starkes trieb Cathérine, das Fläschchen an die Lippen zu setzen. Es entströmte ihm ein Duft nach Kräutern, kräftig, aber angenehm. Sie empfand keine Furcht mehr. Man bietet kein Gift mit so zärtlicher Stimme an … In einem Zug trank sie den Inhalt aus, dann mußte sie husten. Es war wie eine parfümierte Flamme, was sie da geschluckt hatte, und sofort fühlte sie sich stärker und mutiger. Sie lächelte in das zärtliche Gesicht des jungen Mädchens.
»So! Bist du nun zufrieden?«
Liebevoll drückte Tereina ihr die Hand und lächelte auch:
»Ja … geh jetzt! Er erwartet dich!«
Tatsächlich hob sich unter der hochgeschlagenen Plane des Karrens die Silhouette Feros schwarz gegen den hellen Hintergrund ab. Tereina verschwand wie durch Zauberei, während Cathérine, von neuem Mut erfüllt, auf den Wohnkarren des Anführers zuging. Er nahm wortlos ihre Hand, half ihr, in das Fahrzeug zu steigen, und ließ die Plane wieder herunter. Im selben Augenblick erhellte ein fahler Blitz den Himmel, während am Horizont der Donner grollte. Cathérine zuckte überrascht zusammen. Die weißen Zähne Feros blitzten zwischen seinen roten Lippen.
»Hast du Angst vor Gewittern?«
»Nein. Ich war nur überrascht. Warum sollte ich Angst haben?«
Ein neuer Donnerschlag, stärker als der erste, schnitt ihr das Wort ab. Und sogleich fing es an zu regnen, heftig, in schweren Tropfen, die auf die schäbige Plane des Wagens trommelten. Fero streckte sich auf den zusammengefalteten Decken aus, die ihm als Bett dienten. Er hatte sein Wams ausgezogen und trug nur
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