Charlottes Traumpferd
wir trennten uns, und ich marschierte die wenigen Meter weiter zum Reitstall.
Auf dem groÃen Reitplatz mit der weiÃen Umzäunung ritten ein paar Privatreiter auf ihren eigenen Pferden. Diemächtigen Bäume rings um den Platz spendeten Schatten, sodass man auch im Sommer nicht in der prallen Sonne reiten musste. In den sorgfältig geschnittenen Rosenbüschen und dem Kirschlorbeer summten die Bienen. Ich ging langsamer und warf den Reitern sehnsüchtige Blicke zu. Es musste herrlich sein, reiten zu können, wann immer man Lust und Zeit hatte.
»Hallo, Herr Kessler!«, rief ich dem Reitlehrer zu, als er auf Abros, dem groÃen Fuchswallach, der dem Vater meiner Freundin Billie gehörte, an mir vorbeitrabte.
»Hallo, Charlotte.« Der Reitlehrer parierte das Pferd neben mir durch. »Na, habt ihr endlich Ferien?«
»Ja.« Ich blieb stehen. »Kann ich heute Nachmittag um drei Uhr die Reitstunde mitreiten?«
»Natürlich. Trag dich nur im Buch ein.« Herr Kessler lieà die Zügel lang und fuhr sich mit einer Hand durch das kurz geschnittene dunkle Haar. »Hast du übrigens Lust, am Reitabzeichenlehrgang teilzunehmen?«
»Reitabzeichenlehrgang?«, wiederholte ich und bekam vor Aufregung weiche Knie. Herr Kessler fragte so ganz nebenbei, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Beim letzten Mal, als im Reitstall eine Reitabzeichenprüfung abgenommen worden war, hatte er mich nicht angesprochen. Bedeutete dies etwa, dass ich mittlerweile gut genug reiten konnte?
»Ja«, sagte der Reitlehrer. »In der zweiten Julihälfte wollte ich einen Lehrgang anbieten, der mit der Prüfung zum Reitabzeichen abschlieÃt. Ich dachte, dass Dorothee, Inga, Oliver, Karsten und du mitmachen könntet.«
Ich starrte ihn an. Meine Vorfreude verwandelte sich schlagartig in ein Gefühl bitterer Enttäuschung. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! In der zweiten Julihälfte war ich nicht da.
»Na ja.« Herr Kessler schien etwas irritiert über meine fehlende Begeisterung. Er nahm die Zügel wieder auf und lieà Abros antraben. »Du kannst mir ja noch Bescheid sagen.«
Ich hörte Gento nach mir wiehern, aber ich stand noch wie betäubt am Geländer des Reitplatzes. Ausgerechnet in den Sommerferien würde ein Reitabzeichenlehrgang stattfinden â ohne mich! Alle meine Freunde würden daran teilnehmen, während ich in Frankreich herumhockte und mich zu Tode langweilte! Es war einfach ungerecht.
Langsam trottete ich zu Gentos Box. Der Wallach erwartete mich mit gespitzten Ohren und machte den Hals lang, um mit seiner Nase meine Taschen zu untersuchen. Ich öffnete die hölzerne Boxentür und strich Gento über den schweiÃverklebten Hals.
»Ich hab jetzt nichts für dich dabei«, sagte ich. »Ach je, du siehst ja wieder schlimm aus.«
Herr Lauterbach ritt immer spätabends. Wenn er für ein Turnier trainierte, musste Gento die vielen Hindernisse auf dem Platz springen. Nach dem Training hatte Herr Lauterbach es immer so eilig, dass er Gento nicht mehr trocken ritt, sondern einfach in die Box stellte. »Er will nur schnell an den Tresen im Casino kommen«, hatte meine Freundin Dorothee einmal spitz gesagt, und damit hatte sie nicht ganz unrecht. Als »Casino« wurde das Reiterstübchen bezeichnet,in dem sich die Reiter abends gerne trafen, um zusammen ein Bierchen zu trinken und zu quatschen. Durch die groÃen Scheiben konnte man in die Reithalle hinunterschauen und im Sommer gab es eine kleine Terrasse mit Blick auf den Reitplatz. Hier fanden auch die jährlichen Mitgliederversammlungen des Vereins statt, genauso wie die Nikolaus- oder die Weihnachtsfeier. Auch wir Jugendlichen saÃen hin und wieder nach dem Reiten dort, schmökerten in den herumliegenden Pferdezeitschriften und genehmigten uns von unserem Taschengeld die eine oder andere Cola.
Ich vertröstete Gento auf später und ging hinüber in den Stall. In der Sattelkammer, die gleichzeitig das Stallbüro war, lag auf dem Schreibtisch das dicke Buch, in das die Reitstunden eingetragen wurden. Um drei Uhr waren nur vier Namen vermerkt. Meine Freundinnen Dorothee und Inga hatten dieselbe Idee wie ich gehabt. Oliver und Karsten, die sonst immer mit uns zusammen ritten, waren heute gleich nach der Schule mit ihren Eltern für zwei Wochen in den Urlaub entschwunden. Ich beneidete sie nicht, wobei sie noch Glück hatten,
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