Charlston Girl
weiche entsetzt auf meinem Stuhl zurück. »Du kannst mich sehen!«
Eilig schüttle ich den Kopf. »Kann ich nicht.«
»Und du kannst mich hören!«
»Nein, kann ich nicht!«
Ich merke, dass sich Mum vorne stirnrunzelnd zu mir umsieht. Ich huste und deute auf meine Brust. Als ich mich umdrehe, ist das Mädchen weg. Verschwunden.
Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich werde verrückt. Ich meine, ich weiß, dass ich in letzter Zeit viel Stress hatte, aber eine echte Halluzination ...
»Wer bist du?« Fast fahre ich vor Schreck aus der Haut, als sich die Stimme des Mädchens in meine Gedanken bohrt. Plötzlich kommt sie den Gang entlang, mir entgegen.
»Wer bist du?«, will sie wissen. »Wo bin ich? Wer sind diese Leute?«
Antworte niemals einer Halluzination, sage ich mir. Es wird sie nur ermutigen. Ich wende mich ab, und versuche, mich auf die Pastorin zu konzentrieren.
»Wer bist du?« Plötzlich erscheint das Mädchen direkt vor mir. »Bist du real?« Sie hebt eine Hand, als wollte sie mir an die Schulter stoßen, und ich weiche zurück, doch ihre Hand geht direkt durch mich hindurch und kommt auf der anderen Seite wieder heraus. Ich stöhne vor Schreck. Verdutzt starrt das Mädchen erst seine Hand an, dann mich.
»Was bist du?«, ruft sie. »Bist du ein Traum?«
»Ich?«, entfährt es mir leicht pikiert. »Natürlich bin ich kein Traum! Du bist der Traum!«
»Ich bin kein Traum!« Sie klingt nicht minder pikiert.
»Was bist du dann?«, rutscht es mir zu laut heraus.
Ich bereue es augenblicklich, da Mum und Dad zu mir herübersehen. Wenn ich ihnen sagen würde, dass ich mit einer Halluzination spreche, würden sie ausflippen. Ich säße schon morgen in der Klapse.
Das Mädchen schiebt sein Kinn vor. »Ich bin Sadie. Sadie Lancaster.«
Sadie...?
Nein. Niemals.
Ich kann mich nicht rühren. Mein Blick zuckt wirr von dem Mädchen vor mir... zu der grauen, alten Frau mit den Zuckerwattehaaren auf dem Polaroid... und wieder zurück zu dem Mädchen. Ich halluziniere meine tote Großtante?
Die Halluzination sieht auch ziemlich mitgenommen aus. Sie dreht sich um, als wäre ihr das alles vorher gar nicht aufgefallen. Ein paar schwindelerregende Sekunden lang taucht sie überall im Raum auf und gleich wieder ab, sieht sich jede Ecke an, jedes Fenster, wie ein Insekt, das in einem leeren Aquarium herumsummt.
Ich hatte noch nie eine unsichtbare Freundin. Ich habe nie Drogen genommen. Was ist bloß los? Ich sage mir, ich sollte das Mädchen ignorieren, es ausblenden, der Pastorin zuhören. Aber es nützt nichts. Ich kann mich einfach nicht abwenden.
»Was ist das hier?« Als sie ihren Sarg sieht, kneift sie argwöhnisch die Augen zusammen. »Was ist das?«
Oh Gott.
»Das ist... nichts«, sage ich eilig. »Rein gar nichts! Es ist nur... ich meine... ich würde an deiner Stelle lieber nicht so genau hinsehen...«
Zu spät. Schon steht sie am Sarg und starrt ihn an. Ich sehe, wie sie den Namen »Sadie Lancaster« auf dem Plastikschild liest. Ich sehe, wie ihr Gesicht vor Schreck zusammenzuckt. Ein paar Momente später wendet sie sich der Pastorin zu, die noch immer vor sich hin salbadert:
»Sadie fand Erfüllung in der Ehe, was für uns alle eine Inspiration sein sollte...«
Das Mädchen bringt sein Gesicht ganz nah an das der Pastorin und betrachtet sie verächtlich.
»Dumme Trine!«, sagt sie schneidend.
»Sie war eine Frau, die ein stolzes Alter erreichte«, fährt die Pastorin fort, ohne irgendwas zu merken. »Ich betrachte dieses Bild...« Mit barmherzigem Lächeln deutet sie auf das Foto. »... und ich sehe eine Frau, die trotz ihrer Gebrechlichkeit ein schönes Leben hatte. Die Trost in kleinen Dingen fand. Dem Stricken zum Beispiel.«
»Stricken ?«, wiederholt das Mädchen ungläubig.
»So denn...« Offensichtlich kommt die Pastorin zum Ende ihrer Rede. »Verneigen wir uns in Schweigen, bevor wir Abschied nehmen.« Sie tritt vom Podium, und Orgelmusik erklingt.
»Was passiert jetzt?« Das Mädchen sieht sich um, ist plötzlich hellwach. Im nächsten Moment steht sie neben mir. »Was passiert jetzt? Sag es mir! Sag es mir!«
»Na ja, der Sarg kommt hinter den Vorhang«, raune ich ihr zu. »Und dann... äh...« Meine Stimme erstirbt. Wie soll ich es taktvoll sagen? »Wir sind hier in einem Krematorium, was bedeutet, dass...« Ich fuchtele verlegen herum.
Das Gesicht des Mädchens wird vor Schreck ganz bleich, und mit einigem Unbehagen sehe ich, wie sie langsam einen seltsam blassen,
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