Charlston Girl
durchscheinenden Zustand annimmt. Fast sieht es aus, als würde sie ohnmächtig, nur schlimmer. Einen Moment lang kann ich beinahe durch sie hindurchsehen. Dann kommt sie wieder, als hätte sie einen Entschluss gefasst.
»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich brauche meine Kette. Ich brauche sie.«
»Tut mir leid«, sage ich hilflos. »Da kann ich nichts machen.«
»Du musst die Feuerbestattung verhindern!« Abrupt blickt sie auf, die Augen schwarz und funkelnd.
»Was ?« Ich starre sie an. »Das kann ich nicht!«
»Natürlich kannst du es! Sag ihnen, sie sollen aufhören!« Als ich mich abwende, um sie auszublenden, erscheint sie auf der anderen Seite. »Steh auf! Sag was!«
Ihre Stimme klingt schneidend und beharrlich wie die eines kleinen Mädchens. In Panik ziehe ich den Kopf ein, um ihr auszuweichen.
»Halt die Bestattung an! Stopp sie! Ich muss meine Kette haben!« Sie ist einen Fingerbreit vor meinem Gesicht. Ihre Fäuste trommeln auf meine Brust ein. Ich kann sie nicht spüren, zucke aber dennoch zurück. Verzweifelt stehe ich auf und ziehe eine Sitzreihe weiter, wobei ich klappernd einen Stuhl umwerfe.
»Lara, ist bei dir alles in Ordnung?« Erschrocken blickt Mum herüber.
»Alles gut«, bringe ich hervor, während ich auf einen anderen Stuhl sinke und versuche, das Geschrei in meinem Ohr zu ignorieren.
»Ich lass den Wagen schon mal kommen«, sagt Onkel Bill eben zu Tante Trudy. »In fünf Minuten müssten wir hier fertig sein.«
»Halt! Halt-halt-halt!« Die Stimme der jungen Frau wird zu durchdringendem Kreischen, wie eine Rückkopplung in meinem Ohr. Ich werde schizophren. Jetzt weiß ich, wieso Leute Präsidenten ermorden. Ich kann die Stimme unmöglich ignorieren. Die Frau ist wie eine Furie. Ich halte es nicht mehr aus. Ich halte meinen Kopf, versuche, das Geschrei zu überhören, aber es nützt nichts. »Halt! Halt! Du musst etwas tun...«
»Okay! Okay! Aber... hör auf zu schreien!« In meiner Verzweiflung stehe ich auf. »Moment!«, rufe ich. »Augenblick! Wir müssen die Bestattung anhalten! ALLES STOPP!«
Zu meiner Erleichterung hört das Mädchen auf zu kreischen.
Der Nachteil ist, dass meine gesamte Familie mich anstarrt als hätte ich den Verstand verloren. Die Pastorin drückt einen Knopf in einem hölzernen Schaltkasten, und die Orgelmusik verstummt.
»Die Bestattung anhalten ?«, sagt Mum schließlich.
Ich nicke schweigend. Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich momentan wohl nicht ganz im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte.
»Aber warum?«
»Ich... ähm...« Ich räuspere mich. »Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Dass sie von uns geht.«
»Lara.« Dad seufzt. »Ich weiß, dass du momentan unter Druck stehst, aber wirklich...« Er wendet sich der Pastorin zu. »Ich bitte um Verzeihung. Meine Tochter fühlt sich in letzter Zeit nicht gut.« Liebeskummer , hängt er lautlos an.
»Das hat nichts damit zu tun!«, protestiere ich gekränkt, aber keiner hört auf mich.
»Ah. Verstehe.« Die Pastorin nickt verständnisvoll. »Lara, wir bringen die Bestattung zu einem würdigen Ende«, sagt sie wie zu einer Dreijährigen. »Und dann trinken wir beide vielleicht ein Tässchen Tee und unterhalten uns ein bisschen. Was meinen Sie?«
Sie drückt wieder auf den Knopf, und die Orgelmusik setzt ein. Im nächsten Moment macht sich der Sarg auf seinem Sockel knarrend auf den Weg und verschwindet hinter dem Vorhang. Hinter mir höre ich ein scharfes Keuchen, dann...
»Neeeein!«, heult es gequält. »Neeein! Halt! Ihr müsst das Ganze stoppen!«
Zu meinem Entsetzen springt das Mädchen auf den Sockel und will den Sarg zurückschieben. Aber ihre Arme funktionieren nicht. Sie greifen ins Leere.
»Bitte!« Sie blickt auf und fleht mich verzweifelt an. »Das dürfen sie nicht!«
Langsam kriege ich echt Panik. Ich weiß nicht, wieso ich das alles halluziniere, oder was es zu bedeuten hat. Aber es fühlt sich sehr real an. Ihre Qualen scheinen echt zu sein. Ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und zusehen.
»Nein!«, rufe ich. »Halt!«
»Lara...«, sagt Mum.
»Es ist mein Ernst! Ich habe einen triftigen Grund, wieso dieser Sarg nicht... verbrannt werden darf. Wir müssen das Ganze unterbrechen! Sofort!« Ich laufe den Gang entlang. »Drücken Sie den Knopf, oder ich tue es selbst!«
Sprachlos drückt die Pastorin auf den Knopf, und der Sarg bleibt stehen.
»Liebes, vielleicht solltest du lieber draußen warten.«
»Sie spielt sich auf, wie üblich!«,
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