Chasm City
die Seuche – wie jeder wirklich leistungsfähige Parasit –, ihren Wirt vollends auszurotten. Die Menschen starben zu Millionen – aber Millionen konnten sich auch in Sicherheit bringen und in hermetisch abgeriegelten Enklaven in der Stadt und im Orbit verschanzen. Die Nanomaschinen in ihrem Körper bekamen den Befehl zur Selbstzerstörung und wurden als harmloser Staub ausgeschieden. Chirurgen waren Tag und Nacht damit beschäftigt, Implantate aus den Köpfen zu reißen, bevor die Seuche auch sie erfassen konnte. Wer so eng mit den Maschinen verbunden war, dass er nicht darauf verzichten konnte, suchte sein Heil im Kälteschlaf und ließ sich zusammen mit anderen in abgedichteten Kryo-Krypten beisetzen – oder verließ das System für immer. Zugleich strömten Millionen von Menschen auf der Flucht vor der Zerstörung des Glitzerbandes aus dem Orbit nach Chasm City. Etliche der reichsten Bürger des Systems waren darunter, doch jetzt erging es ihnen nicht besser als allen Flüchtlingen in der Geschichte. Was sie in Chasm City vorfanden, mag sie kaum getröstet haben…
— Auszug aus einer im Raum um Yellowstone kostenlos erhältlichen Einführung aus dem Jahr 2517 für neu eintreffende Besucher des Systems. —
Eins
Als Dieterling und ich die Brücke erreichten, brach bereits die Nacht herein.
»Eines muss ich dir noch zu Rothand Vasquez sagen«, bemerkte Dieterling. »Du darfst ihn nie mit diesem Namen ansprechen.«
»Warum nicht?«
»Weil er dann stocksauer wird.«
»Soll ich mich etwa vor ihm fürchten?« Ich bremste unseren Wheeler scharf herunter, parkte ihn am Straßenrand zwischen einem Sammelsurium verschiedenster Fahrzeuge und ließ die Stabilisatoren herunter. Die überhitzte Turbine roch wie ein heißer Gewehrlauf. »Seit wann kümmern wir uns darum, was der Pöbel von uns denkt?«
»Normalerweise nicht, aber hier ist vielleicht etwas Vorsicht geboten. Vasquez mag nicht der hellste Stern am Verbrecherhimmel sein, aber er hat Freunde, und er hat ‘ne nette Masche laufen, die extrem sadistisch ist. Also zeig dich von deiner besten Seite.«
»Ich werde mein Möglichstes tun.«
»Ja – und bemühe dich wenigstens, dabei nicht allzu viel Blut zu verspritzen, ja?«
Wir stiegen aus dem Wheeler, legten den Kopf in den Nacken und schauten zur Brücke hinauf. Ich hatte sie noch nie gesehen – ich war noch nie in der Entmilitarisierten Zone und oder gar in Nueva Valparaiso gewesen –, und sie war mir schon unglaublich riesig erschienen, als wir noch fünfzehn oder zwanzig Kilometer von der Stadt entfernt gewesen waren. Der Schwan hatte, rot und aufgebläht, mit einem kleinen feurigen Kern bereits dicht über dem Horizont gestanden, aber es war noch so hell gewesen, dass man das Brückenkabel und hin und wieder eine der winzigen kugelförmigen Gondeln erkennen konnte, die ins All hinaufgezogen oder von dort herabgelassen wurden. Schon da hatte ich befürchtet, wir könnten zu spät kommen – Reivich könnte bereits in einer der Kabinen sitzen –, aber Vasquez hatte uns versichert, der Mann, den wir jagten, befinde sich noch in der Stadt und sei damit beschäftigt, seine Vermögensverhältnisse auf Sky’s Edge zu ordnen und Kapital auf langfristige Konten umzuschichten.
Dieterling schlenderte um unseren Wheeler herum – der einrädrige Wagen mit den ineinander greifenden Panzersegmenten erinnerte an ein zusammengerolltes Gürteltier – und öffnete den winzigen Kofferraum.
»Verdammt. Fast hätte ich die Mäntel vergessen, Bruder.«
»Ich hatte eigentlich gehofft, du würdest nicht mehr daran denken.«
Er warf mir einen zu. »Hör auf zu jammern und zieh ihn über.«
Ich zwängte mich vorsichtig hinein, denn ich trug bereits mehrere Schichten Kleidung übereinander. Der Saum schleifte durch die Pfützen mit schmutzigem Regenwasser, aber Aristokraten trugen die Mäntel gern so lang, als wollten sie einen herausfordern, ihnen auf die Schöße zu treten. Auch Dieterling schlüpfte in seinen Mantel und tippte nacheinander die verschiedenen Muster ein, die auf dem Ärmel abgebildet waren. Keine der Optionen fand seine Zustimmung. »Nein«, murmelte er immer wieder stirnrunzelnd. »Nein… Himmel, nein. Und nochmals nein. Und das kommt auch nicht infrage.« Ich griff hinüber und drückte eins von den Feldern. »So. Du siehst umwerfend aus. Und jetzt halt den Mund und gib mir die Waffe!«
Ich hatte meinen Mantel bereits auf ein mattes Perlweiß programmiert, vor dem die Pistole
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