Chasm City
Lieber Besucher,
Willkommen im Epsilon Eridani-System!
Trotz allem, was geschehen ist, wünschen wir Ihnen einen angenehmen Aufenthalt hier bei uns. Die vorliegenden Informationen wurden zusammengestellt, um Ihnen in groben Zügen die wichtigsten Ereignisse in unserer jüngsten Geschichte zu erklären. Das Dokument möchte Ihnen den Eintritt in eine Kultur erleichtern, die sich wohl deutlich von dem unterscheidet, was Sie bei Ihrer Abreise erwartet hatten. Dazu sollten Sie bedenken, dass Sie nicht als Erster zu uns kommen. Die Erfahrungen Ihrer Vorgänger haben uns geholfen, diese Aufklärungsschrift so zu gestalten, dass der Kulturschock möglichst gering gehalten wird. Wir stellen immer wieder fest, dass jeder Versuch, die Vergangenheit – oder auch die Gegenwart – zu beschönigen oder zu verharmlosen, letztlich nur Schaden anrichtet; am besten ist es – das zeigt eine statistische Untersuchung von Fällen wie dem Ihren – die Fakten so offen und ehrlich darzulegen wie nur möglich.
Wir sind uns voll bewusst, dass Sie zunächst nur ungläubiges Staunen empfinden werden, dicht gefolgt von tiefem Groll. Danach werden Sie sich längere Zeit weigern, die Realität anzuerkennen.
Machen Sie sich klar, dass diese Reaktionen normal sind.
Stellen Sie sich weiterhin schon in diesem frühen Stadium darauf ein, dass früher oder später der Zeitpunkt kommt, zu dem Sie sich mit der Wahrheit abfinden und sie akzeptieren werden. Das mag Tage dauern, vielleicht auch Wochen oder gar Monate, aber von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen wird dieser Schritt immer vollzogen. Irgendwann denken Sie vielleicht an diesen Augenblick zurück und wünschen sich, Sie hätten Ihre innere Abwehr früher überwunden. Denn Sie werden erkennen, dass erst nach Abschluss dieser Phase so etwas wie Glück möglich wird.
Lassen Sie uns daher den Anpassungsprozess umgehend einleiten.
Da alle Kommunikationsverbindungen innerhalb des kolonisierten Raums dank der Fundamentalkonstante der Lichtgeschwindigkeit an eine unüberwindliche Grenze stoßen, sind Nachrichten aus anderen Sonnensystemen zwangsläufig oft um mehrere Jahrzehnte überholt. Das heißt, alles, was Sie über Yellowstone, die Hauptwelt unseres Systems wissen, basiert mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf veralteten Informationen.
Es ist richtig, dass Yellowstone mehr als zwei Jahrhunderte lang – ja, bis in die jüngste Vergangenheit – bestimmt wurde von der von zeitgenössischen Beobachtern zumeist so genannten Belle Epoque. Ein Goldenes Zeitalter ohne Beispiel in gesellschaftlicher wie in technologischer Hinsicht; ein weltanschauliches Modell, das bei allen Außenstehenden als nahezu perfekte Regierungsform galt.
Yellowstone war Ausgangspunkt für viele erfolgreiche Unternehmungen. Man gründete Tochterkolonien in anderen Sonnensystemen und rüstete ehrgeizige wissenschaftliche Expeditionen an die Grenzen des von Menschen besiedelten Weltraums aus. Yellowstone und sein Glitzerband waren Schauplatz visionärer gesellschaftlicher Experimente wie der umstrittenen, aber bahnbrechenden Projekte Calvin Sylvestes und seiner Schüler. Yellowstone war ein Nährboden für Innovationen, ein Treibhaus, in dem große Künstler, Philosophen und Wissenschaftler sich entfalten konnten. Ohne Scheu trieb man die Forschung im Bereich der neuralen Aufrüstung voran. Andere menschliche Kulturen brachten den Synthetikern nur Misstrauen entgegen, aber wir Demarchisten – bereit, die Vorzüge aller Verfahren der Bewusstseinserweiterung angstfrei zu genießen – bauten Beziehungen zu ihnen auf, die es uns erlaubten, ihre Techniken voll zu nützen. Ihre Raumschifftriebwerke ermöglichten es uns, sehr viel mehr Systeme zu besiedeln als andere Kulturen, die sich weniger funktionsfähigen Gesellschaftsmodellen verschrieben hatten.
Es war wahrhaftig eine große Zeit. Und wahrscheinlich hatten auch Sie damit gerechnet, bei Ihrer Ankunft diese Situation vorzufinden.
Doch hier müssen wir Sie leider enttäuschen.
Vor sieben Jahren wurde unser System von einer Krankheit befallen. Der genaue Übertragungsweg ist bis heute unklar, aber man ist sich nahezu sicher, dass die Seuche, vielleicht in inaktiver Form und ohne Wissen der betreffenden Besatzung, womöglich schon vor Jahren mit einem Schiff eingeschleppt wurde. Ob sich das jemals klären lässt, erscheint zweifelhaft, zu viel wurde zerstört oder geriet in Vergessenheit. Die digital gespeicherten Aufzeichnungen zur Geschichte unseres
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