Chasm City
ohnehin nie aufhören, ihn als meinen eigenen zu betrachten.
Also beschloss ich, mich nicht länger dagegen zu wehren.
Ich war schon wieder ins Träumen geraten. Und die Frau in meinem Büro wartete immer noch auf ein Wort von mir.
»Bekomme ich nun den Job oder nicht?«
Ja, wahrscheinlich würde ich sie einstellen, aber ich musste mir noch weitere Kandidaten ansehen, bevor ich eine endgültige Entscheidung traf. Ich stand auf und schüttelte die kleine Tod bringende Hand. »Sie stehen sehr weit oben auf der Liste. Und selbst wenn Sie für die Stellung nicht ausgewählt werden sollten, über die wir gesprochen hatten, möchte ich Ihren Namen aus einem anderen Grund in meiner Kartei behalten.«
»Ja?«
Ich dachte an Gideon, der nach all den Jahren immer noch in Gefangenschaft war. Ich hatte gelobt, noch einmal in den Abgrund hinab zu steigen – wenn auch nur, um ihn zu töten –, aber ich hatte bisher noch keine Gelegenheit gefunden. Ich wusste, dass er noch am Leben war, denn es kam immer noch Traumfeuer in die Stadt, wenn auch nur in kleinen Mengen, die sehr begehrt waren. Auch mit seinen Schreckensvisionen wurden in einer Konzentration, die wir Menschen eben noch verkraften konnten, nach wie vor morbide Geschäfte gemacht. Aber er musste dem Tode nahe sein, und wenn mein Gelübde nicht jede Bedeutung verlieren sollte, blieb mir nicht mehr viel Zeit.
»Ich möchte vielleicht noch eine andere Operation durchführen; das ist alles.«
»Und wann wäre das?«
»In etwa vier Wochen, vielleicht auch erst in drei oder vier Monaten.«
Sie lächelte wieder. »Ich bin gut, Mister Mirabel. Sie können nur hoffen, dass ich Ihnen bis dahin nicht von einer anderen Organisation vor der Nase weggeschnappt werde.«
Ich zuckte die Achseln. »Dann sollte es eben nicht sein.«
»Wer weiß.«
Wir reichten uns noch einmal die Hand, dann ging sie zur Tür. Ich schaute aus dem Fenster; die Dämmerung brach herein, im Baldachin gingen die ersten Lichter an; Gondeln schwebten als winzige Glühwürmchen durch das ewig braune Zwielicht. Unter mir lag wie eine Ebene voller Lagerfeuer der Mulch, seine Lampen und seine nächtlichen Märkte warfen ihren mattroten Schein zum Netz empor. Ich dachte an die Millionen von Menschen, die in dieser Stadt auch nach den Verwüstungen durch die Seuche so etwas wie eine Heimat gefunden hatten. Seither waren immerhin dreizehn Jahre vergangen. So mancher Erwachsene da unten konnte sich kaum noch erinnern, wie es hier früher ausgesehen hatte.
»Mister Mirabel?« Sie war an der Tür stehen geblieben. »Nur noch eine Frage?«
Ich drehte mich um, lächelte höflich. »Ja?«
»Sie sind länger hier als ich. Sind Sie jemals so weit gekommen, diese Stadt zu lieben?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nur eines.«
»Nämlich?«
»Das Leben ist das, was man daraus macht.«
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