Chasm City
hoffentlich möglichst wenig auffallen würde. Nun zog Dieterling das kleine Ding wie eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche und reichte es mir.
Die Waffe war klein und halb durchsichtig. Unter dem glatten Duroplastgehäuse waberte ein Nebel von winzigen Bauteilen.
Es war eine aufziehbare Pistole. Sie bestand ausschließlich aus Kohlenstoff – hauptsächlich Diamant –, der aber zur Schmierung und zur Energiespeicherung mit Fullerenen versetzt war. Sie brauchte keine Metallteile, keinen Sprengstoff und keine Elektronik. Nur ein ausgeklügeltes System von unzähligen Hebeln und Sperrstangen, die durch kugelige Fullerene gängig gehalten wurden. Geschossen wurde mit spinstabilisierter Diamant-Flechette-Munition. Die Energie lieferten bis zur Bruchgrenze zusammengerollte Fulleren-Federn, die beim Schuss aufsprangen. Die Waffe wurde mit einem Schlüssel aufgezogen wie eine Spielzeugmaus. Visier, Stabilisatoren oder automatische Zielerfassung gab es nicht.
Auf all das konnte ich verzichten.
Keiner der Passanten hatte die Übergabe beobachtet. Beruhigt schob ich die Waffe in meine Manteltasche.
»Ein Schmuckstück, wie ich es dir versprochen hatte«, sagte Dieterling.
»Sie wird genügen.«
»Genügen? Tanner, du enttäuschst mich. Das ist eine ausnehmend schöne und bösartige Waffe. Ich könnte mir sogar vorstellen, sie für die Jagd einzusetzen.«
Typisch Miguel Dieterling, dachte ich. Betrachtet jede Situation erst einmal aus der Perspektive des Jägers.
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Du kriegst sie in einem Stück zurück. Andernfalls weiß ich, was ich dir zu Weihnachten schenke.«
Wir gingen auf die Brücke zu. Keiner von uns war je in Nueva Valparaiso gewesen, aber das machte nichts. Es war nach dem gleichen Plan angelegt wie viele andere große Städte auf dem Planeten. Sogar die Straßennamen waren vertraut. Die meisten unserer Siedlungen hatten einen deltaförmigen Grundriss. Im Zentrum befand sich ein Dreieck mit etwa hundert Metern Seitenlänge, von dessen Spitzen drei Hauptverkehrsadern ausgingen. Um diesen Kern gruppierte sich im Allgemeinen eine Reihe von zunehmend größeren Dreiecken, und irgendwann verlor sich die strenge Geometrie in einem planlosen Gewirr von Vororten und Neubaugebieten. Wofür das Dreieck im Zentrum genutzt wurde, war Sache der jeweiligen Gemeinde und hing gewöhnlich davon ab, wie oft die Stadt im Laufe des Krieges besetzt oder bombardiert worden war. Nur ganz selten hatten sich noch Reste des deltaflügeligen Shuttles erhalten, das einst die Keimzelle der ganzen Ansiedlung gewesen war.
Auch Nueva Valparaiso hatte so angefangen, und seine Straßen trugen die üblichen Namen: Omdurman, Norquinco, Armesto und so weiter – aber das zentrale Dreieck war unter dem Terminal der Brücke begraben. Das Gebäude war für beide Seiten so wertvoll gewesen, dass es alle Kämpfe unbeschadet überstanden hatte. Der schwarze Klotz mit seinen dreihundert Metern Seitenlänge ragte so senkrecht auf wie ein Schiffsrumpf, war aber im unteren Drittel mit einem Schorf aus Hotels, Restaurants, Kasinos und Bordellen überkrustet. Doch auch ohne die Brücke hätte man der Straße angesehen, dass sie in einem der alten Viertel unweit des Landeplatzes lag. Einige der Gebäude bestanden aus aufeinander gestapelten Frachtbehältern, in die man Türen und Fenster geschnitten hatte, um sie dann in den folgenden zweihundertfünfzig Jahren nach Lust und Laune mit allen möglichen architektonischen Schnörkeln zu garnieren.
»He«, sagte eine Stimme. »Da ist ja der verdammte Tanner Mirabel.«
Der Mann lehnte im Schatten eines Hauseingangs, als hätte er nichts Besseres zu tun, als den Insekten beim Vorbeikriechen zuzusehen. Ich kannte ihn bisher nur vom Telefon oder vom Video – wobei wir unsere Gespräche möglichst kurz gehalten hatten – und hatte ihn mir viel größer vorgestellt, viel weniger wie eine Ratte. Er trug einen ähnlich schweren Mantel wie ich, nur drohte ihm der seine jeden Moment von den ‘Schultern zu rutschen. Die bräunlich verfärbten Zähne waren spitz zugefeilt, ein ungepflegter Drei-Tage-Bart zierte das spitze Gesicht, das lange schwarze Haar war nach hinten gekämmt und ließ die extrem niedrige Stirn frei. In der linken Hand hielt er eine Zigarette, die er sich immer wieder zwischen die Lippen schob, die andere – rechte – Hand steckte unsichtbar in der Manteltasche und machte keine Anstalten, sich hervor zu wagen.
»Vasquez«, sagte ich, als sei es ganz
Weitere Kostenlose Bücher