Feuerschwingen
1
G rundgütiger! Wer hätte gedacht, dass ich in diesem Nest einen solchen Fund machen würde!« Mila ging in die Knie und nahm die schwarze Lackschatulle vorsichtig in beide Hände, um sie näher zu betrachten.
»In der Tat!«, sagte eine dunkle Stimme über ihr.
Erschrocken sprang sie auf. »Oh!«, war alles, was ihr beim Anblick des Mannes einfiel, der sie nun musterte, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich dachte …« Ihr fehlten die Worte, und sie räusperte sich, um Zeit zu gewinnen. Woher war er so plötzlich gekommen, und warum stand er so nahe bei ihr?
»Sie haben nicht zufällig Florence gesehen?« Nervös sah sie sich nach ihrer Freundin um, die eben noch hinter ihr gestanden hatte.
»Meinen Sie die …« Hier machte er eine Pause, als müsste er über eine passende Beschreibung nachdenken. »… die Blondine , die soeben den Laden verlassen hat?«
Die arrogante Stimme klang verdächtig nach einer teuren Schulbildung und passte so gar nicht zu der brodelnden Energie, die Mila unter der glatten Oberfläche zu spüren glaubte.
In ihrem Hinterkopf schrillten Alarmglocken. Dieser Fremde war keiner, in dessen Gesellschaft sich jemand wie sie aufhalten sollte. Obwohl sie nicht den geringsten Hauch von Magie fühlte, hatte sie das unbehagliche Gefühl, dass er ohne Mühe bis auf den Grund ihrer Seele blicken könnte, wenn er es darauf anlegte. Das durfte niemals geschehen.
Bisher war sie immer gut damit beraten gewesen, ihrer Intuition zu vertrauen. Unauffällig vergewisserte sie sich, dass ihre mentalen Schutzschilde unversehrt waren. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe von einhundertsiebenundsiebzig Zentimetern auf und war nun dank ihrer für einen Ausflug in die Provinz zu hohen Absätze auf Augenhöhe mit dem unangenehmen Fremden.
Vielleicht sogar etwas größer , dachte sie zufrieden. Mit einem kühlen » Entschuldigung!« versuchte sie, sich in dem engen und vollgestellten Laden an ihm vorbeizudrängen.
Doch er wich keinen Millimeter zurück, sondern sah sie nur mit unergründlichen waldgrünen Augen an. Behutsam und nicht ohne Bedauern stellte sie die kostbare Lackdose auf einem gut erhaltenen Regency-Sekretär ab und duckte sich unter dem ausgestreckten Arm einer Marmorstatur links neben dem Mann hindurch. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ sie den Antiquitätenladen und lief den steilen Weg zur Main Road hinauf.
»Mila!« Florence winkte ihr von der gegenüberliegenden Straßenseite zu, wo sie unter einem weißen Sonnenschirm auf einer Terrasse vor dem Pub saß, das bereits bei der Ankunft ihr Interesse geweckt hatte. Sie hatte die Füße hochgelegt, als wäre sie hier zu Hause. Mit wohldosiert zur Schau gestellter Langeweile fächelte sie sich mit der Speisekarte Luft zu. Ihre Augen waren hinter einer übergroßen Sonnenbrille verborgen.
»Da bist du! Ich habe dich schon überall gesucht.« Kaum hatte Mila einen Fuß auf die schmale Hauptstraße des kleinen Küstenorts Ivycombe gesetzt, ließ sie ein Warnton zurückspringen, der Ähnlichkeit mit dem Gurgeln einer strangulierten Ente hatte. Einer erschreckend lauten Ente. Das Cabrio, das Sekunden später an ihr vorbeischoss, hatte allerdings nichts mit einem watschelnden Federvieh gemeinsam. Ärgerlich ließ sich Mila am Tisch ihrer Freundin nieder. »Hast du das gesehen?«
»Ein neues Jaguar Cabriolet, sehr schick! Nur das Kopftuch der Fahrerin – eine Spur zu klischeehaft, findest du nicht auch?« Florence nickte der Kellnerin zu, die zwei große Salatteller vor ihnen abstellte. »Das sieht gut aus. Und ganz frisches Brot, vielen Dank!«
Lachend griff Mila nach ihrem Besteck. »Wenigstens ein Designer-Kopftuch, hoffe ich?«
»Burberry«, murmelte Florence. »Ein göttliches Dressing!«
»Ja, wunderbar.«
Milas Freundin, die genau genommen ihre Chefin war, besaß zwei Obsessionen: Essen und Stil. Während man Ersteres beim Blick auf ihre schlanke Gestalt nicht unbedingt vermutet hätte, fiel dem Betrachter die Leidenschaft für stilvolle Garderobe sofort ins Auge. Mila fand zwar, dass sich Florence eine Spur zu konservativ kleidete, war sich aber nicht zu schade, hier und da einmal ein teures Accessoire auszuleihen. Zum Dank sorgte sie dafür, dass sich ihre Freundin zumindest privat modischer stylte, was diese ihr mit Einladungen zu exklusiven Partys oder gelegentlich einem unbezahlbaren Kleid aus dem schier unerschöpflichen Fundus ihrer großzügigen Schwester dankte.
Als Florence ihr kleines Unternehmen
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