04 - Spuren der Vergangenheit
Tage später
Roo hustete und spuckte Blut. Für einen Moment schwanden ihm die Sinne.
Seit jenem verfluchten Tag, an dem das Unheil seinen Lauf genommen hatte, regnete es pausenlos.
Durch die offene Tür behielt Roo die Dorfstraße im Blick. Sie war verlassen, nichts rührte sich. Die Schwüle trieb süßlichen Gestank ins Haus. Tod und Verwesung.
War außer ihm überhaupt noch jemand am Leben?
Er schüttelte sich wie ein nasser Hund.
Zusammengerollt wie ein Kleinkind lag Roo in eine Decke gehüllt auf dem Lehmboden. Schläfrig veränderte er die Lage seines Kopfes ein wenig. Er wusste, dass es auch in ihm steckte. Er wusste, dass er genauso elend sterben würde wie die anderen Bewohner des abgelegenen Dorfes. Die nächste größere Stadt, Ah Kin Pech, lag zwei oder drei Tagesmärsche entfernt, von dort würde niemand kommen. Und selbst wenn, wer hätte den Willen der Götter brechen können?
Roo röchelte. Er hatte Tonkrüge ins Freie gestellt, damit sich Wasser darin sammeln konnte. Zum Brunnen war es zu weit. Hin hätte er es vielleicht geschafft, aber gewiss nicht mehr zurück, erst recht nicht mit einer schweren Last.
Aber obwohl sein Mund mit den aufgesprungenen Lippen wie ausgedörrt war, fehlte ihm der Antrieb zu trinken. Ihm fehlte der Antrieb zu allem.
Er seufzte.
Da! War da nicht … Bewegung gewesen? Mit größter Anstrengung hob er den Kopf und spähte angestrengt nach draußen.
Einmal heute hatte er einen abgemagerten Hund gesehen, der zwischen den Häusern herumschlich. Der Hund hatte auch ihn bemerkt und zu ihm herübergestarrt. Er hatte geschnuppert und geknurrt. Dann war er weitergetrottet.
War er zurückgekehrt?
Nach einer Weile gelangte Roo zu dem Schluss, dass er sich getäuscht hatte. Da war nichts.
Niemand.
Doch plötzlich sagte jemand ganz nah bei ihm, in seiner Behausung: »Was ist hier passiert? Warum sind alle krank – oder tot?«
Roo ruckte herum. Seine Blicke durchkämmten den Raum.
Nichts. Niemand war hier. Der Nahrungsmangel und die Krankheit gaukelten ihm Stimmen vor, die gar nicht existierten.
Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er wünschte, er hätte alles rückgängig machen können, hätte seiner verdammten Neugier nicht nachgegeben. Damit hatte alles angefangen. Mit seiner unstillbaren Neugier …
»Warum antwortest du nicht? Ich fragte dich: Was ist hier passiert?«
Obwohl er auch jetzt nicht damit rechnete, dass die Stimme echt war, drehte Roo langsam das Gesicht in ihre Richtung. Zu seiner Verblüffung sah er einen Mann. Er wirkte fahl, farblos. Aber gesünder als Roo.
»Verschwinde!«, fauchte der Maya. »Du holst dir den Tod!«
Das schien den Fremden zu amüsieren, obwohl er nicht lachte. »Ich kann nicht sterben.«
Roo nickte. »Ich dachte es mir. Weil du gar nicht wirklich bist. Du siehst auch nicht aus wie einer von uns.«
»Ich bin fremd hier. Ich folge der Spur des Himmelssteins. Ihr müsst ihn gesehen haben. Es ist noch nicht lange her, dass er herabfiel.«
Roo hatte ein Gefühl, als flöße ihm jemand kochendes Wasser ein, das die Kehle hinab rann bis in den Bauch und ihn mit Schmerzen füllte. Er hustete und schnitt eine Grimasse. »Verschwinde!«
»Du hast also nichts gesehen?«
»Doch!« Die Erinnerung fühlte sich an, als würde eine Dornenschnur durch sein Gehirn gezogen. »Nicht nur gesehen …«, brabbelte er, »sondern auch gefunden …«
Das Trugbild – denn nichts anderes konnte es sein – beugte sich tief zu ihm herab, bis seine fremdartigen Züge Roos Gesichtsfeld ausfüllten. Schockiert versuchte er wegzurutschen, doch das Gespenst folgte jeder seiner Bewegungen.
»Du warst an der Einschlagstelle? Du hast den Asteroiden gefunden? Wo ist er jetzt?«
Roo kniff die Augen zusammen. Er war so unendlich müde. »Geh«, flüsterte er. »Lass mich allein.«
Die dröhnende Stimme des anderen ließ ihn die Lider wieder aufreißen. »Begreifst du nicht, wer ich bin? Ich wurde von den Göttern gesandt! Ich bestimme, ob du im düsteren Xibalbá landest oder im hohen Himmel! Sieh nur, welch schrecklichen Folgen es hatte, dass du den Himmelsstein an dich nahmst! Gib ihn heraus und ich mildere dein Leiden!«
»Aber …«, krächzte Roo und bäumte sich auf. Der hohle Klang der Stimme in seinem Schädel war kaum zu ertragen. »Ich habe ihn doch zurückgebracht! Dorthin zurück, wo ich ihn fand!«
»Wo ist das? Führe mich hin!«
Roo zitterte wie Espenlaub. »D-das kann i-ich nicht!«
»Du kannst!« Der Unheimliche erhob sich.
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