Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
auch die unzähligen Nischen und Seitengänge auszuleuchten. Chiara machte sich jedoch keine Illusionen. Wenn ihr jemand auflauern wollte, hatte er jede Möglichkeit dazu. Nur, wer sollte ihr auflauern? Ein Landstreicher oder ein flüchtiger Verbrecher hätte sich allenfalls im verlassenen Haus eingenistet. Dort hatten sie keine Spuren gefunden. Und an die Ungeheuer ihrer Kindheit glaubte sie nicht mehr. Sie ließ ihren Blick mit dem Schein der Lampe wieder über schmutzbedeckte Böden und altes Mauerwerk streifen. Geräusche entstehen nicht grundlos. Irgendetwas oder irgendwer musste sie verursachen. Ohne zu zögern, betrat sie den Gang, aus dem sie vorhin geflüchtet waren. Als sie sich auf der Höhe von Marias Kammer befand, schaltete sie das Licht aus und blieb horchend stehen, so wie sie es schon einmal gemacht hatte, als sie auf Antonio mit seinem Werkzeug wartete. Sie zählte langsam bis 600 - zehn Minuten vergingen. Die Stille blieb vollkommen. Chiara schaltete die Lampe wieder ein und drang noch tiefer vor. In jene Richtung, aus der früher der Lärm gedrungen war. Sie schätzte, dass sie sich bereits mehr als 100 Meter vom Eingang entfernt hatte und sich hier wenigstens 30 Meter Erde und Fels über ihrem Kopf türmten. Die Ausmaße des Kellers machten eine richtige Durchsuchung unmöglich, das wusste sie. Vielleicht hatte Antonio Recht gehabt und es ihre Rückkehr erwies sich als sinnlos, eine bloße Trotzreaktion. Trotzdem ging sie weiter, beleuchtete Wände, Gewölbe, Nischen und Böden. Und plötzlich Mauerbrocken, die auf dem Boden lagen. Sie richtete die Lampe auf die Decke. Das Gewölbe schien intakt. Die Steine stammten von einer Wand, von der Rückwand einer breiten Nische. Dort klaffte eine Öffnung von den Ausmaßen einer schmalen Tür. Aber es handelte sich nicht um eine Tür. Die Kanten verliefen unregelmäßig wie bei einem gewaltsamen Mauerdurchbruch. Kein geheimer Gang und keine zweite Kammer verbargen sich dahinter. Die Höhlung reichte nicht tiefer als einen Meter und verbreiterte sich auch nicht. Das Material bestand aus fest zusammengepresstem Erdreich. Sie betastete es. Es fühlte sich hart an wie Beton. Nichts ließ darauf schließen, warum ausgerechnet dieser Mauerteil sich lösen und nach vorne in die Nische stürzen sollte. Chiara entdeckte weder Risse noch andere Schäden, abgesehen von den Schrammen des Alters, die sich überall im Keller fanden. Hatten sie diesen seltsamen, scheinbar grundlosen Einsturz gehört? An bröckelnde Steine hatte sie tatsächlich gedacht. Alles erschien gleichermaßen staubtrocken. Die Wände, die Mauerteile, die Höhlung. Der Schaden mochte schon vor langer Zeit entstanden sein. Aber daran glaubte sie nicht. Sie hielt ihn für frisch und ihr fiel keine andere Ursache dafür ein, als ihr ‚Einbruch’ in Marias Kammer. Auch wenn das keinerlei Sinn ergab. Mit einem Mal drückten Dunkelheit und Stille auf ihr Gemüt. Vielleicht taugte die Luftqualität in diesem Teil des Kellers doch nicht für einen längeren Aufenthalt? Die Lampe wurde langsam schwächer. Eine Kerze hätte sie wenigstens vor Sauerstoffmangel gewarnt. Der Gedanke genügte, um sie die Last der Tonnen, die auf diesen Gängen ruhten, doppelt schwer fühlen zu lassen – so, als ob sie schon direkt auf ihre Brust drückten. Zwischen den Steinen, ganz nahe der Höhlung, blitzte etwas auf im Lichtschein. Chiara bückte sich und fand ein daumennagelgroßes Metallstück. Sie steckte ihren Fund ein und wollte möglichst rasch zurück. Aber bei der Untersuchung der kleinen Höhle hatte sie sich einige Male gedreht. In welche Richtung musste sie gehen? Bislang hatte sie sich auf ihren Orientierungssinn stets verlassen können. Nun fühlte sie sich verwirrt. Sie machte einige Schritte. Lief sie tiefer in den Berg hinein? Die Leuchtkraft der Lampe nahm rasend schnell ab. Ihr gelbliches Zwielicht schälte nicht mehr wie vorhin viele Details aus der Dunkelheit, an die sie sich hätte erinnern können. Auch etwas anderes beschäftigte sie. Etwas im Zusammenhang mit der Höhlung und dem Schutt auf dem Boden davor. Es fiel ihr nicht ein. Chiara entschied sich und schritt voran, so rasch sie konnte. Entweder erreichte sie bald den Ausgang oder sie würde irgendwann an das Ende des Kellers stoßen. Und sich dann wohl in tiefster Finsternis auf den langen Rückweg machen müssen. Sie achtete nicht mehr darauf, leise zu gehen. Leise gehen hieß Zeit vergeuden. Warum hatte sie nicht auch Antonios Lampe
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