Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Regalen, war die Vision ohne Vorwarnung über sie hereingebrochen. Dieses Gefühl, unter ungeheurem Getöse in sich selbst gesogen zu werden und danach frei in einem geheimnisvollen Raum zu schweben - so intensiv und beängstigend wie heute. Wochenlang war sie damals erschüttert gewesen, verstört und aufgeregt. Danach hatte sie den Vorfall vergessen. Das erschien ihr auch seltsam.
Und nun?
‚Vor Schreck in Ohnmacht gefallen‘, dachte sie ärgerlich und stand vorsichtig auf. Sie streckte die Arme aus und bewegte sich auf der Stelle im Kreis. Nichts. Nicht einmal der Lappen. Chiara hatte die Richtung verloren. Für eine Weile blieb sie ruhig stehen und überlegte. Wenn ihre Vermutung mit dem herab hängenden Tuch stimmte, dann befand sie sich nicht weit vom Ausgang: Die gute Nachricht. Leider dennoch zu weit, um trotz größter Anstrengung einen Lichtschimmer zu entdecken, der ihr die Richtung gewiesen hätte. Wenn Antonio sich in der Nähe des Kellers befand, würde er sie vielleicht hören. Sie begann nach ihm zu rufen. Zaghaft zunächst, dann immer lauter. Ihre Rufe hallten weit in den Gängen und Gewölben, doch selbst wenn sich etwas Fremdes im Keller herum trieb, würde es ihm bei all den Echos nicht leicht fallen, ihren Standort zu bestimmen. Dann wartete sie. Stille erfüllte wieder die Räume, lückenlos wie die Dunkelheit. Chiara wartete mit geschlossenen Augen, um sich ganz auf ihr Gehör zu konzentrieren. Sie hörte nichts. Doch da wurde ihr bewusst, dass sie eine Luftbewegung fühlte. Einen leichten, kaum wahrnehmbaren Hauch, ein wenig kühler als die Luft im Keller. Ein wenig kühler und ein wenig frischer. Er musste von außen in das Labyrinth dringen. Langsam drehte sie sich – mit ihrem Gesicht als Sensor, mit nun weit aufgerissenen Augen (die Brille hatte sie abgenommen), mit Geruchssinn und befeuchteten Lippen – bis sie glaubte, die Quelle des Luftstroms zu lokalisieren. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, immer bemüht, den Kontakt nicht abreißen zu lassen und ihre Schritte dorthin zu lenken, wo der Strom am intensivsten schien. Ein denkbar loser und flüchtiger Ariadnefaden, doch er erfüllte seinen Zweck. Nach einer Weile lichtete sich die Dunkelheit, oder schien zumindest nicht mehr so absolut dunkel wie zuvor. Sie ging nun schneller. Mit jedem Meter schwand die Schwärze und dann stand sie unvermittelt im ersten Gewölbe. Die schmutzstarrenden, fast blinden Scheiben in den Luken zum Hof leuchteten für sie in diesem Moment so schön wie die prächtigen Fenster von Donatello, Ghiberti und Uccello im Dom der Heimatstadt.
Schnell stieg sie die Treppe hinauf. Die Uhr zeigte beinahe halb zwei. Ihre Ohnmacht hatte länger gedauert als vermutet. Die Stimmen der Vögel begrüßten sie, als sie auf den hellen Hof trat. Aber der Hof präsentierte sich, abgesehen von allerlei Unrat, ebenso leer wie Antonios Cabrio. Wo mochte er stecken? Sie hatte fast zwei Stunden im Keller verbracht. Kaum befreit von der eigenen Sorge, wuchs die Sorge um den Freund. Er musste etwas unternommen haben, nachdem sie so lange nicht auftauchte. Sie ging zum Wagen und sah ihn.
„Toni!“
Manchmal genügt der Klang eines einzigen Wortes, um ein ganzes Universum an Gedanken, Phantasien und Gefühlen zum Einsturz zu bringen.
Antonio wollte aufspringen, doch seine Füße waren vom langen Hocken eingeschlafen. Er kippte nach vorne auf die Knie und kniete hilflos vor Chiara, das Ding fest in seinen Händen, mit einer Miene, als sei er aus tiefem Schlaf oder einer Hypnose erwacht.
In Chiaras Augen wetterleuchtete es. So sorgte er sich um sie! Alles deutete auf den Ausbruch eines heftigen Gewitters. Aber als sie ihn vor sich auf dem steinigen Boden knien und um Fassung ringen sah, verflog ihr Zorn.
„Komm!“ sagte sie knapp. „Fahren wir.“
Er wollte das Ding wieder auf den Rücksitz legen, doch sie nahm es ihm ab. Während der Fahrt durch die Allee musterte sie es eingehend, so wie er es zuvor getan hatte. Es fühlte sich wirklich angenehm an, sie mochte es. Es war ihr sympathisch . Plötzlich fühlte sie einen kühlen Schauder. Warum dachte sie, dass die Sympathie auf Gegenseitigkeit beruhte? Sie räusperte sich.
„Es ist vielleicht wirklich eine Skulptur. Hast du etwas herausgefunden?“
Er berichtete von seinen Erfahrungen, auch von dem Gefühl, dass es auf seine Berührungen reagiere. Sie erzählte ihrerseits von ihren Erlebnissen, unterschlug aber die Ohnmacht und die Vision.
„Es ist erst
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