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Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)

Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)

Titel: Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bergmann
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verstreut lagen wie die Fenster von Le Corbusiers berühmter Kapelle in Ronchamp. Antonio hatte auf der langen Liste seiner Studien auch drei Semester Architektur abgehakt.
    Mit einem Mal wurden seine Neugier und sein Bedürfnis, es zu berühren, übermächtig. Er öffnete die Tür, nahm es von der Bank, drehte und betrachtete es von allen Seiten, er ließ seine Finger behutsam über die glatten Rundungen gleiten. Das Ding verbreitete einen matten, jetzt lichtgrauen Schimmer, der ganz unbeeindruckt blieb von den Strahlen der Sonne, es spiegelte sie nicht. Schön ist es, dachte Antonio. Er hockte sich auf die Fersen, den Rücken gegen das Auto gelehnt. Er begann das Ding zu streicheln, wie sein Onkel Giuseppino einst kleine Tiere gestreichelt hatte, mit viel Hingabe. Und das Ding schien zu reagieren. Antonio erkannte – oder glaubte es jedenfalls – leichte Änderungen von Leuchtkraft und Farbe. Sogar die winzigen geometrischen Formen änderten sich, was er zunächst für eine Täuschung hielt. Doch es stimmte, kein Zweifel. Kleine Kreise wurden zu Ellipsen, Rechtecke zu Quadraten, andere langsam flacher, bis sie verschwanden. Und das offenbar abhängig von seinen Berührungen. Beinahe hatte er den Eindruck, mit dem Ding zu kommunizieren... Die Welt um sie beide trat völlig in den Hintergrund, verdrängte seine Nervosität, sein schlechtes Gewissen und selbst die Sorge um Chiara. Nie hätte er das für möglich gehalten.

13___
    Als das ekelhafte, weiche Etwas ihr Gesicht berührte, geschah etwas Seltsames. Trotz ihres Schreckens begriff Chiara, dass es sich nur um einen alten Fetzen handelte. Er hing an einem Deckenhaken und sie hatte ihn im Vorübergehen heute schon dreimal gesehen, ohne ihm weitere Aufmerksamkeit zu schenken. In der Dunkelheit war sie hinein gelaufen. Das ergab eine einfache, banale und beruhigende Erklärung. Doch da geschah auch etwas Beunruhigendes. Sie lauschte weiterhin ihrem eigenen Schrei. Er verklang nicht, wie er es hätte tun müssen, da sie längst nicht mehr schrie. Er sammelte sich in ihren Ohren, als würden sich dort Strudel bilden – und er schwoll an. Immer lauter toste er, bis hin zur absoluten Unerträglichkeit. Bis zu einer furchtbaren, vernichtenden Intensität. Äußerlich hatte sich anscheinend nichts verändert – sie stand immer noch im dunklen, stillen Keller der Parellos – doch innerlich kämpfte sie verzweifelt gegen dieses ungeheure Getöse, das sich laufend wandelte. Sie erkannte darin das Rauschen ihres eigenen Blutes, das wie ein hundertfacher Niagarafluss über verhundertfachte Niagara Fälle stürzte, sie erkannte das Pochen ihres Herzens, als ob eine Riesenfaust in wilder Wut auf die Erde trommelte, sie erkannte das Strömen der Luft in ihren Lungen als würden sich alle Tornados, Hurrikans und Taifune der Welt in ihr zu einem letzten, überwältigenden, endgültigen Orkan vereinen. Sie merkte nicht mehr, dass sie taumelte und zu Boden fiel. Ihr war, als würde sie mit unwiderstehlicher Kraft in sich selbst gesogen. Unter diesem Ansturm wurde sie winzig klein, schrumpfte mit rasender Geschwindigkeit bis zu dem Punkt, an dem sie plötzlich aufhörte zu existieren. In diesem Moment verstummte der infernalische Lärm.
    Sie schwebte körperlos in einem schwarzen Raum, den komplizierte Strukturen aus reinem Licht durchwehten. Kompliziert, aber für Chiara klar und einfach, durch und durch folgerichtig. Sie wusste nicht, was sie sah, aber sie ahnte, dass es etwas sehr Großes und Bedeutendes ausdrückte. Etwas, wie der letzte Zusammenhalt aller Dinge, den wir erst sehen können, wenn alle, wirklich alle Vorhänge zur Seite geschoben und alle Kulissen umgeworfen sind. Sie erkannte eine Urmelodie aus Licht und Form, die das Versprechen in sich trug, jede Frage zu beantworten. Sie stellte keine Fragen. Doch sie erhielt Antworten, die sie tief in sich bewahrte. Viel tiefer als ihr Bewusstsein reichte. Sie wusste nicht, wie lange es dauerte.

14___
    Als sie wieder erwachte, lag sie lang ausgestreckt auf dem harten Boden, immer noch umgeben von tiefster Dunkelheit. Verschwunden die Lichtstrukturen und verstummt die Urmelodie, die Vorhänge wieder zugezogen, die Kulissen neu errichtet. Sie erinnerte sich nur schemenhaft daran. Aber sie erinnerte sich plötzlich daran, dass sie diese halb traumatische Vision ganz ähnlich schon einmal als Kind durchlebt hatte. Hier im Keller hatte sie mit anderen Kindern Verstecken gespielt. Tief in einem Seitengang zwischen zwei

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