Chiemsee Blues: Hattinger und die kalte Hand (German Edition)
und zwei Nachttischchen, dessen eine Hälfte offensichtlich benutzt war. Die Bettdecke war zurückgeschlagen, das Kissen zerknautscht, wohingegen die andere Seite ohne Bettzeug war, wohl dauerhaft zugedeckt mit einer Tagesdecke. Außerdem gab es den üblichen breiten Schlafzimmerschrank mit mehreren Doppeltüren, von denen zwei offenstanden. Die Kleidungsstücke waren sehr ordentlich eingeräumt, akkurat gefaltet, nur einzelne Stapel mit T-Shirts, Hosen und Pullovern waren auseinandergerissen und so liegengelassen worden. Der ganze Rest des großen Schranks war leer.
Neben dem Schlafzimmer lag ein kleiner Wirtschaftsraum mit Bügelbrett und ähnlichen Dingen, angrenzend ein Bad mit Badewanne, Dusche und Waschmaschine, außerdem gab es noch eine separate Toilette, und am Ende des Gangs vermutlich das Zimmer, das zu Lebzeiten die Tochter der Ostermeiers bewohnt hatte.
Hattinger knipste das Licht an und ging hinein.
Das Zimmer war ein Museum. Ein Jungmädchenzimmer mit allem, was man vielleicht bei einer 10-Jährigen erwarten würde, außer der üblicherweise dazu gehörenden Unordnung: Ein weißes Bett mit rosa Tagesdecke und einem dicken Kopfkissen, auf dem Teddybären, Zottelhunde, Tiger, Krokodile und andere Kuscheltiere lagerten, ein weißer Schreibtisch mit Schulsachen, Büchern, Schreibutensilien, ein Glasregal mit kleinen Porzellanfigürchen, Steinen, Muscheln, bunten Kettchen, ein weiteres Regal mit Schulbüchern, Lexika, Wörterbüchern und anderen Sammlungen von Wissenswertem, ein weißer Kleiderschrank, ein weißer Korb mit Stoffpuppen, die offensichtlich selbstgemacht waren, bunte Pappschachteln mit Bastelzeug und ein paar ordentlich gerahmte Zeichnungen und selbstgemalte Bilder an den Wänden. Das Mobiliar stammte aus dem Land, wo die Möbel auf Namen wie Snorrebrö oder Almshult hörten ... Und alles war piccobello aufgeräumt und abgestaubt. Sogar der Blick der Kuscheltiere war akkurat auf die Zimmertür ausgerichtet, als ob sie ihre Herrin erwarteten ...
Jetzt sahen sie allerdings nur Bamberger hereinkommen, der gerade mit seinen Leuten eingetroffen war. Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. „Wie alt war des Mädel? 15 hab i gedacht, oder ...?“
Hattinger nickte. „Solltst amoi des Zimmer von meiner Lena segn, da schaut’s anders aus, des konnst ma glaubn!“
In diesem Zimmer hier gab es tatsächlich nichts von allem, was man in dem Alter erwarten würde, keine Poster von aufgestylten Jungrockern, debil grinsenden Boygroups, dreifach bemützten Hoppern mit kartoffelsackartigen Jeans, keine zähnefletschenden Death-Metal-Punks und auch keine schwarzumflorten Emos. Es gab auch keinen Ghettoblaster, keine CDs, keinen iPod und keinen Computer.
Blödsinn, natürlich gab’s das nicht, das Mädel war ja schon 20 Jahre tot, besann sich Hattinger. Er hatte gerade daran gedacht, wie es heute war. Aber auch damals gab es schon Teenie-Idole, Poster, Bravo-Zeit-schriften ...
Und im ganzen Zimmer war – was schon damals ein 15-jähriges Mädchen unabdingbar zum Überleben brauchte – kein einziger Spiegel!
Das einzige Zugeständnis an einen etwas jüngeren Geschmack war die zartrosa Wandfarbe. So ein Anthroposophenrosa ...
„Des is wie a Mausoleum da herin ... I denk, es gibt zwoa Möglichkeiten: Entweder die ham ihre Tochter von allem fernghalten, was für an Teenager interessant is, oder sie ham nach ihrem Tod alles wieder so hergricht wie’s früher amoi war ... Oder beides ...“
Hattinger sah ein kleines Foto über dem Schreibtisch, es war das Sterbebild von ihrer Beerdigung: Ein lachendes kleines Mädchen mit langen blonden Zöpfen war darauf zu sehen, schätzungsweise elf bis zwölf Jahre alt. Darunter stand gedruckt:
Eva Maria Ostermeier* 15.06.1976 † 29.10.1991 Die andere Hälfte des Sterbebilds mit den Beerdigungsdaten und dem Bibelspruch war abgeschnitten.
42
Es dämmerte ganz zart im Osten über dem See, hinter der Alpenkette, fast unmerklich war es ein kleines bisschen heller geworden, so dass er jetzt deutlich die Umrisse der dunklen Berge im Süden erkennen konnte und nicht mehr nur die Lichter der Kampenwandbahn, der Häuser am See und der Scheinwerfer der Autos, die drüben am Ufer auf der Autobahn dahinjagten. Er hatte immer noch nicht geschlafen und den Gedanken daran inzwischen auch aufgegeben, obwohl er immer noch genügend Zeit gehabt hätte.
Er musste an die Ärztin denken. Mit ihr verband ihn eine lange gemeinsame Geschichte, obwohl sie bis zum Schluß
Weitere Kostenlose Bücher