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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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echauffiert wieder im Vestibül auf und rauschte hocherhobenen Hauptes an hoffnungsvoll blickenden Zimmermädchen, Portiers und Kellnern vorbei aus dem Haus, gefolgt von der verschüchterten Zofe, die mit gesenktem Blick hinter ihrer Herrschaft hertrippelte.
    Normalerweise geleitete Herr Bircher seine Gäste bis zum Ausgang und verabschiedete sich in aller Form. Kein Zweifel, im Bureau war es zu einer unschönen Szene gekommen. Vielleicht hatte der Patron der Dame nahegelegt, sich für ihre nächste Sommerfrische ein anderes Hotel zu suchen.
    Herr Ganz bestätigte Anna diese Vermutung am Abend und meinte: «Na ja, eigentlich sollte ich nicht so denken, aber ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtäte, die Frau Baronin als Gast zu verlieren. Ich hoffe nur, der nächste Bewohner der Kleinen Suite wird uns weniger Sorgen bereiten.»
    ***
    Es regnete, nichts Ungewöhnliches für London. Lieutenant Christian Wyndham blickte aus dem Fenster. Er wusste – und es war schön, wieder Dinge zu wissen –, er war in London, er war in einem Hospital, und es war ein guter Tag gewesen. Ein Tag, der nicht gänzlich im Nebel des Schmerzmittels versunken war. Solche Tage wurden jetzt häufiger. Und mit ihnen kamen die Erinnerungen zurück und Namen zu den Gesichtern, die an seinem Bett auftauchten.
    Er drehte den Kopf zur Wand, wo ein Bild hing – ein japanisches Bild, das wusste er mit grosser Gewissheit, auch wenn er nicht sagen konnte, woher er das wusste. Jemand hatte die Darstellung eines tief verschneiten Dorfes in den Bergen dort aufgehängt. Nein, nicht irgendjemand, sondern Hastings – sein Name war Hastings, und er wusste, dass Christian das Bild liebte, weil er sein Freund war.
    Christian war dankbar; bei seinem langsamen Erwachen hatte sich sein Geist an sonst nichts festhalten können, und das Bild war zu seinem Fluchtpunkt geworden. Er hatte auf die schneebedeckten Dächer gestarrt und sich vorgestellt, dort zu leben, weitab von dem unheimlichen Raum mit dem grellen Licht, den lauten Stimmen und den Schmerzen. Nach einiger Zeit des Friedens hatte er aber erkannt, dass er nun um sein Leben kämpfen musste. Dass es an der Zeit war, Abschied zu nehmen von der samtigen Stille des Schnees und an den unbekannten Ort mit den fremden Gesichtern zurückzukehren. Ein Versprechen, das er sich zwischen den Welten gegeben hatte, half ihm auf dem beschwerlichen Weg: Er würde irgendwann einen Winter in den Bergen verbringen.
    Nun war das Schlimmste vorbei; noch war es Sommer, noch war er im Hospital. Doch die Ärzte sagten, im Herbst könnte er nach Hause, wo auch immer das war. Und auf den Herbst folgte der Winter.
    Natürlich konnte er nicht nach Japan fahren. Aber es gab sehr viel näher auch Berge und Schnee. Er schloss die Augen und schlief, dem Regen lauschend, ein.

Die Spielwiese
    «Ein berühmter Autor hat die Schweiz einst als ‹Spielwiese Europas› bezeichnet, denn Menschen aller Nationen lieben es, in das kleine Land im Zentrum des Kontinents zu reisen, ihre Ferien dort zu verbringen und sich auf mannigfaltige Art und Weise zu vergnügen. Auf einer Spielwiese gibt es jene, die einfach nur zuschauen, und jene, die mit Eifer dabei sind und immer all ihre Kräfte und Fähigkeiten einsetzen. Genauso ist es auch in der Schweiz. Manche betrachten die weissen Bergspitzen aus der Ferne, andere lieben es, die schneebedeckten Höhen zu erklimmen, dabei Mühsal und Gefahr, ja manchmal den Tod in Kauf nehmend, um die abgelegenen Gipfel zu bezwingen.»
    Switzerland – John Finnemore, London 1909
    Es war Herbst geworden, und die Voraussagen der Ärzte hatten sich bewahrheitet. Es ging Christian viel besser, und er sollte bald entlassen werden. Das Hospital würde er dank Tante Elinor, dem schwarzen Schaf der Familie, als wohlhabender Mann verlassen, denn sie hatte ihn zu ihrem Alleinerben bestimmt. Sie war bereits seit einiger Zeit krank gewesen. Christian hatte vorgehabt, sie nach seinem letzten Einsatz wieder einmal zu besuchen. Dazu war es nun zu spät, sie war im Frühsommer verstorben. Die Nachricht von seiner Verwundung hatte sie nicht mehr bei klarem Verstand erreicht, was vielleicht ein Segen gewesen war. Sie waren sich nahegestanden, und deshalb hatte man ihm ihren Tod lange verschwiegen. Doch schliesslich waren die Anwälte ungeduldig geworden. An einem schwülen September-Nachmittag hatte die Testamentseröffnung in seinem Krankenzimmer stattgefunden: Er verfügte nun über ein beträchtliches Vermögen und war

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