Chiffren im Schnee
werden muss, geht das gleich in einem. Er möchte gerne einen Raum als Lese- und Arbeitszimmer verwenden, also sorgen Sie dafür, dass der Salon entsprechend eingerichtet wird. Der Lieutenant gedenkt, einen Teil seiner Bibliothek in Bücherschränken mitzubringen, und er hat auf seine Rechnung einen Stehsekretär geordert. Besprechen Sie das bitte mit Schreinermeister Bieri.»
Die Erwähnung von Bücherschränken versöhnte Anna etwas mit dem Gedanken, sich um einen Gast kümmern zu müssen, der offensichtlich viel Arbeit machen würde. Sie fragte sich, ob man dem Gentleman nicht einen persönlichen Bediensteten zur Verfügung stellen sollte.
Herr Bircher wandte sich wieder dem Brief des Gentleman zu: «Er möchte einen Valet zugewiesen bekommen, jemanden, der passabel Englisch spricht natürlich – er hat zwar auf Deutsch geschrieben, aber trotzdem. Was meinen Sie, Herr Ganz? Einer der jungen Burschen sollte sich dazu wohl eignen.»
Was Herrn Ganz beim Gedanken, bis zu Beginn der Wintersaison einen tadellosen englischen Kammerdiener sozusagen aus dem Nichts herbeizuzaubern, durch den Kopf ging, konnte Anna nur erahnen. Seine Miene blieb regungslos, während er stumm nickte.
«Wunderbar», erklärte der Patron aufgeräumt, «damit ist wohl alles geklärt. Beginnen Sie mit den Vorbereitungen.» Er überreichte Anna die Liste mit den Wünschen des Lieutenants und entliess sie dann alle.
Im Vorzimmer des Bureaus erlaubte sich Herr Neumeyer lediglich ein leichtes Seufzen, bevor er sich hinter seine Schreibmaschine setzte. Herr Ganz machte erst im Vestibül seinen Gefühlen Luft. «Ein Valet – für einen englischen Offizier – in ein paar Wochen! Keiner der Burschen hat das Zeug dazu! In Koebners ‹Herrenbrevier› wird der englische Kammerdiener als ‹Gedicht›, ja als ‹Sinfonie› bezeichnet.»
Anna fühlte mit ihm. Hausknechte und Portiers fielen zwar nicht in ihre Zuständigkeit, aber sie kannte die möglichen Kandidaten alle und hielt es für unwahrscheinlich, dass einer den Erwartungen eines Marine-Lieutenants entsprechen würde.
«Jost spricht recht gut Englisch.» Anna konnte selbst kaum glauben, dass sie diesen Vorschlag machte.
Herr Ganz starrte sie an. «Das kann nicht Ihr Ernst sein, Fräulein Staufer!»
Jost Ammann stammte aus dem Nachbardorf. Sein Vater war ein legendärer Bergführer – bekannt für seine Fähigkeit, mit englischen Gästen wunderbar auszukommen. Jost hatte bei weniger anspruchsvollen Touren als Träger aushelfen dürfen und dabei ein wenig Englisch gelernt. Das war auf den ersten Blick aber auch das Einzige, was für ihn sprach. Er verfügte über viel guten Willen und wenig Geschick, was wahrscheinlich der Grund war, warum er nicht in die Fussstapfen seines Vaters trat. Im Splendid war er erst seit diesem Frühjahr. Er hätte eigentlich im Service arbeiten sollen, aber schon nach wenigen Tagen war das Office seinetwegen in offenen Aufruhr geraten. Seine Verlegung war von Herrn Schmied, dem Maître d’hôtel, sehr entschieden verlangt worden, und so hatte Herr Ganz ihn unter seine Fittiche genommen. Jost arbeitete nun als Hausknecht. Er war trotz seiner zwei linken Hände beliebt, denn er pflegte abends im Personal-Speisesaal allerlei haarsträubende Sagen und Legenden über goldgierige Gnome und rachsüchtige Berggeister zu erzählen. Anna mochte ihn, er war ein gutmütiger Kerl, der einfach seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden hatte.
«Warum nicht? Er ist freundlich und hilfsbereit, und das scheint mir wichtig für diese Position. Wer weiss, vielleicht braucht er nur eine Arbeit, die seinem Wesen entgegenkommt, um seine Ungeschicklichkeit abzulegen.»
Herr Ganz liess sich das durch den Kopf gehen, bevor er immer noch leicht zweifelnd meinte: «Da ist schon etwas dran – mir ist auch schon aufgefallen, dass er älteren Gästen, die nicht mehr so gut auf den Beinen sind, immer besondere Aufmerksamkeit schenkt. Er hat ein gutes Auge für all die kleinen Schwierigkeiten, die sich ihnen in den Weg stellen. Und mit dem Englischen haben Sie recht, ich habe ihn ein oder zwei Mal im Gespräch mit englischen Gästen gehört. Nun, es mag riskant sein, aber es scheint mir zumindest einen Versuch wert. Wenn der Patron schon so eigenwillige Entscheidungen trifft, dann können wir das auch.»
Und damit begab er sich auf die Suche nach Jost, dessen «Lehrzeit» als Valet wohl noch in dieser Stunde beginnen würde.
Anna las die Liste in ihrer Hand durch, die sauber
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