Chiffren im Schnee
Berge verirrten. Die Zeit davor war jeweils voller Betriebsamkeit, denn vieles musste noch erledigt und gleichzeitig bereits die kommende Saison vorbereitet werden.
Kurz vor der Schliessung des Splendid wurde Anna eines Tages zusammen mit Herrn Ganz und Herrn Neumeyer ins Direktions-Bureau beordert. Wenn der Patron seinen Generalstab, wie er Sekretär, Concierge und Gouvernante manchmal spasseshalber bezeichnete, einberief, musste eine wichtige Angelegenheit zu besprechen sein.
«Ich habe hier ein Schreiben aus England», sagte er und deutete auf das Blatt in seiner Hand. «Ein invalider Lieutenant a.D. der Royal Navy fragt an, ob das Splendid bereit wäre, ihn trotz einiger gesundheitlicher Probleme für die Wintersaison in einer der Suiten zu beherbergen. Was meinen Sie dazu?»
Anna wusste aus Erfahrung, dass der Patron meist seine Entscheidung schon getroffen hatte, wenn er zu solchen Besprechungen einlud. Nun wollte er lediglich wissen, welche Einwände es abzuschmettern galt.
Herr Ganz, dem das Prozedere ebenfalls bekannt war, wagte sich vor. «Das Splendid ist kein Sanatorium. Die Gäste werden nicht gerne daran erinnert, dass Menschen nicht nur zum Vergnügen in die Berge kommen. Jedes Mal, wenn wir einen Gast haben, der viel hustet, will niemand mehr neben ihm sitzen, weil alle glauben, er wäre schwindsüchtig. Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, einen Invaliden aufzunehmen. Anhaltende Krankheiten geben immer zu allerhand unerfreulichen Gerüchten Anlass.»
Dem war tatsächlich so. Seit Doktor Koch bewiesen hatte, dass die Tuberkulose eben doch eine ansteckende Krankheit war, hatte sich viel verändert, und nun wurde sehr darauf geachtet, Hotels von Sanatorien für Lungenkranke zu unterscheiden.
Der Patron griff ungeduldig nach einem weiteren Briefbogen. «Der Lieutenant wurde im Dienst am Rücken verletzt, mit seinen Lungen ist alles in Ordnung. Hier ist ein Schreiben von Dr. Fuller aus der Harley Street, der das bestätigt. Wie es aussieht, leidet der Lieutenant noch unter starken Schmerzen und muss sich schonen – er wird wohl die meiste Zeit in der Suite bleiben. Sollte er Schmerzmittel benötigen, wird sich Doktor Reber darum kümmern.»
Herr Ganz blickte etwas unbehaglich zu Anna. Ein Gast, der sein Zimmer kaum verliess, galt immer als unheimlich. Anna stimmte ihm insgeheim zu; zudem bereitete ihr noch etwas anderes Sorgen. Ein Marineoffizier, der das Leben auf See und an der frischen Luft gewöhnt war und nun auf einmal Schmerzen und viele Einschränkungen seines Alltags ertragen musste: Es brauchte wahrlich nicht viel Vorstellungskraft, um Probleme anderer Art vorauszusehen.
Neben den Schwindsüchtigen gab es noch eine andere Gruppe von Gästen, die jedes Hotel fürchtete. Schwermütige Damen und Herren, die dazu neigten, ihre Waffen mitzubringen und dann bei deren Reinigung einen tödlichen Unfall zu erleiden. Doch Anna behielt diese Gedanken für sich; sie mochte nicht an Dinge rühren, die ihr immer noch viel zu sehr wehtaten.
«Ich denke, die anderen Gäste sollten sich durch die Anwesenheit eines im Dienste für sein Vaterland verwundeten Offiziers geehrt fühlen», erklärte Herr Bircher mit strengem Blick und gab ihnen allen damit vor, wie sie Gerüchten über den Gast zu begegnen hätten.
Herr Neumeyer hüstelte. «Wenn ich eine solch delikate Frage aufbringen darf, wie steht es um die Finanzen des Herrn? So viel ich weiss, bezahlt Seine Majestät nicht gerade üppige Pensionen. Kann der Lieutenant sich das Splendid für eine ganze Saison leisten?»
«Es handelt sich um einen Gentleman», meinte Herr Bircher stirnrunzelnd, «weshalb es ungehörig ist, seine Liquidität in Frage zu stellen.» Er fuhr mit Blick auf einen Stapel weiterer Briefe fort: «Wie mir versichert wurde, hat der Lieutenant nicht nur verwandtschaftliche Beziehungen zum Hochadel, er hat erst kürzlich eine Villa am Zürichsee und ein hübsches Vermögen geerbt.»
Im Zweifelsfalle siegte auch beim Patron Geschäftssinn über Etikette. Wenn er bereits so viele Erkundigungen eingezogen hatte, stand wohl fest, dass er diesen schwierigen Gast aufzunehmen gedachte. Er griff nach einem Stapel Telegramme und wandte sich direkt an Anna, die bereits ihr Notizbuch gezückt hatte. «Der Lieutenant bittet ausdrücklich um Räume mit Abendsonne. Wir werden ihn also in der Kleinen Suite unterbringen. Er hat einige Sonderwünsche bezüglich der Einrichtung; da die Suite eh noch wiederhergestellt
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