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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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»Tschüs!«
    Ein verschwommenes Aufblitzen ihres gelben Sweatshirtsund ihrer roten Latzhose, als ihre Füße wie wild über die nassen Fliesen schlitterten, und schon war sie verschwunden. Nicht zum erstenmal war ich mir fast sicher, Pantoufle zu sehen, der ihr auf den Fersen folgte, ein dunklerer Fleck auf dem dunklen Boden.
    »Sie ist erst sechs«, erklärte ich.
    Reynaud lächelte, die Lippen schmal zusammengepreßt, als hätte der Anblick meiner Tochter jeden Verdacht bestätigt, den er gegen mich hegte.
    Donnerstag, 13. Februar
    Gott sei Dank, es ist vorbei. Nach Besuchen bin ich jedesmal völlig erschöpft. Das gilt natürlich nicht für Sie , mon père ; meine wöchentlichen Besuche bei Ihnen sind ein Luxus, ja, man könnte fast sagen, der einzige Luxus, den ich mir gönne. Ich hoffe, daß Ihnen die Blumen gefallen. Sie sind nichts Besonderes, aber sie duften herrlich. Ich stelle sie hierhin, neben Ihren Stuhl, wo Sie sie sehen können. Von hier aus haben Sie einen schönen Ausblick über die Felder mit dem Tannes, der sich durch das Land schlängelt, und in der Ferne können Sie sogar die Garonne glitzern sehen. Fast könnte man meinen, wir wären ganz allein. Oh, ich will mich nicht beschweren. Wirklich nicht. Aber Sie müssen wissen, wie schwer es für einen Mann ist, die ganze Last allein zu tragen. Ihre nichtigen Sorgen, ihre Klagen, ihre Dummheiten, all ihre trivialen Probleme … Am Dienstag haben sie einen Karnevalsumzug veranstaltet. Man hätte meinen können, daß es sich um Wilde handelte, so wie sie herumgetollt sind. Louis Perrins Jüngster, Claude, hat mit einer Wasserpistole auf mich geschossen, und sein Vater hatte nicht mehr dazu zu sagen, als daß er doch noch klein sei und nur spielen wolle. Ich will sie doch bloß im rechten Glauben leiten, mon père , und sie von ihren Sünden befreien. Aber sie sind so trotzig wie kleine Kinder, die gesunde Kost verweigern und sich statt dessen weiterhin mit Süßigkeiten vollstopfen. Ich weiß, daß Sie mich verstehen. Fünfzig Jahre lang haben Sie all das mit Geduld und Strenge auf Ihren Schultern getragen. Sie haben ihre Liebe gewonnen. Haben die Zeiten sich denn so geändert? Ich werde geachtet und gefürchtet … aber nicht geliebt. Ihre Gesichter sind mürrisch, voller Groll. Als sie gestern mit Aschenkreuzen auf der Stirn die Kirche verließen, wirkten sie zugleich schuldbewußt und erleichtert. Jetzt können sie sich wieder ihren heimlichen Genüssen, ihren geheimen Lastern hingeben. Begreifen sie denn nichts? Der Herr sieht alles. Ich sehe alles. Paul-Marie Muscat prügelt seine Frau. Er kommt jede Woche zur Beichte, betet zehn Ave-Maria und geht dann nach Hause, um so weiterzumachen wie eh und je. Seine Frau stiehlt. Letzte Woche ist sie auf den Markt gegangen und hat an einem Stand Modeschmuck gestohlen. Guillaume Duplessis will wissen, ob Tiere eine Seele haben, und weint, wenn ich ihm erkläre, daß sie keine haben. Charlotte Edouard glaubt, ihr Mann hätte eine Geliebte – ich weiß, daß er drei hat, aber das Beichtgeheimnis zwingt mich zu schweigen. Was sind sie doch für Kinder! Ihre Erwartungen bringen mich zur Verzweiflung. Aber ich kann es mir nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Schafe sind gar nicht so fromm und gutmütig wie auf den Hirtenbildern. Das kann einem jeder Bauer bestätigen. Sie sind durchtrieben, manchmal bösartig und absolut einfältig. Ein nachsichtiger Hirte riskiert, daß seine Herde aufsässig und widerspenstig wird. Ich kann es mir nicht leisten, nachsichtig zu sein.
    Deswegen gestatte ich mir einmal pro Woche diesen Luxus. Ihre Lippen, mon père , sind so fest versiegelt wie die eines Beichtvaters. Sie haben stets ein offenes Ohr, sind stets voller Milde. Für eine Stunde kann ich meine Last ablegen. Eine Stunde lang kann ich zugeben, daß ich fehlbar bin.
    Wir haben ein neues Mitglied in unserer Gemeinde. Einegewisse Vianne Rocher, eine Witwe, nehme ich an, mit einer kleinen Tochter. Erinnern Sie sich noch an die Bäckerei des alten Blaireau? Er ist vor vier Jahren gestorben, und seitdem verfällt das Haus immer mehr. Nun, sie hat das Haus gemietet und will am Wochenende einen Laden eröffnen. Ich glaube nicht, daß das Geschäft lange bestehen wird. Wir haben ja schon Poitous Bäckerei auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, und außerdem paßt sie einfach nicht zu uns. Sie ist ja ganz nett, aber sie hat nichts mit uns gemein. Ich gebe ihr zwei Monate, dann kehrt sie wieder in die Stadt zurück, wo

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