Chocolat
wir.«
Keine richtige Lüge. Diesmal könnte es tatsächlich wahr werden.
Der Karnevalsumzug ist vorbei. Einmal im Jahr flackert im Dorf eine flüchtige Heiterkeit auf, doch schon ist die Wärme wieder verschwunden, schon hat die Menge sich aufgelöst. Die Straßenhändler packen ihre Stände zusammen, die Kinder ziehen ihre Kostüme aus und geben ihre Süßigkeitenab. Es wird ein leichtes Gefühl von Verlegenheit spürbar, von Scham über dieses Übermaß an Lärm und Farbenpracht. Es verflüchtigt sich wie Sommerregen, der auf der aufgesprungenen Erde verdampft, in den Ritzen des Kopfsteinpflasters versickert und kaum eine Spur hinterläßt. Zwei Stunden später ist Lansquenet-sous-Tannes wieder unsichtbar wie ein verwunschenes Dorf, das nur einmal im Jahr aus dem Nebel auftaucht. Hätte es den Karnevalsumzug nicht gegeben, hätten wir das Dorf nie entdeckt.
Wir haben Gas, aber bisher noch keinen Strom. An unserem ersten Abend habe ich bei Kerzenlicht für Anouk Pfannkuchen gebacken, und wir haben sie vor dem offenen Kamin von alten Zeitschriften gegessen, die als Teller dienten, da unsere Sachen erst am nächsten Tag kommen. Der Laden war früher einmal eine Bäckerei gewesen, und über der schmalen Eingangstür ist immer noch das Zunftwappen des Bäckers, eine in das Holz des Türrahmens geschnitzte Weizengarbe zu sehen. Der Boden ist dick mit Mehlstaub bedeckt, und als wir den Laden betraten, mußten wir über Berge von Reklame- und Wurfsendungen steigen. Die Miete kommt mir lächerlich niedrig vor, im Vergleich zu dem, was wir an Mietpreisen in der Großstadt gewöhnt sind; trotzdem ist mir das Mißtrauen im Blick der Hausverwalterin nicht entgangen, als ich ihr die Geldscheine vorzählte. Laut Mietvertrag heiße ich Vianne Rocher, und meine Unterschrift ist so unleserlich, daß man jeden Namen daraus lesen könnte. Bei Kerzenlicht erkundeten wir unser neues Zuhause; die alten Öfen, die unter all dem Ruß und Fett noch erstaunlich gut in Schuß sind, die mit Kiefernholz getäfelten Wände, die rußgeschwärzten Tonfliesen. Als wir die alte, zusammengelegte Markise aus einem Hinterzimmer hervorholten, wo Anouk sie entdeckt hatte, flitzten lauter Spinnen aus den Falten des ausgebleichten Segeltuchs hervor. Unsere Wohnung liegt im ersten Stock über dem Laden; zwei Zimmer, ein Bad, ein lächerlich winziger Balkon, ein Terracottakübel mit toten Geranien … Anouk verzieht das Gesicht.
»Es ist so düster, Maman.« Sie klingt eingeschüchtert, verunsichert angesichts des verwahrlosten Hauses. »Und es riecht so traurig.«
Sie hat recht. Es ist ein Geruch wie von Tageslicht, das jahrelang eingesperrt war, bis es sauer und ranzig wurde, von Mäusedreck und dem Geist vergessener und lieblos weggeworfener Dinge. Es hallt wie in einer Höhle, und die geringe Wärme, die unsere Körper ausstrahlen, läßt jeden Schatten nur noch unheimlicher wirken. Farbe und Sonnenlicht und Seifenwasser werden uns helfen, den Schmutz zu entfernen, aber die traurige Atmosphäre ist etwas anderes, die Freudlosigkeit eines Hauses, in dem seit Jahren niemand gelacht hat … Anouks Gesicht wirkte blaß im Kerzenlicht, als sie mich mit großen Augen anschaute und meine Hand ganz fest hielt.
»Müssen wir hier schlafen?« fragte sie. »Pantoufle gefällt es hier nicht. Er hat Angst.«
Ich lächelte und küßte ihre ernste, goldene Wange.
»Pantoufle wird uns helfen.«
Wir zündeten für jedes Zimmer Kerzen an, goldene, rote, weiße und orangefarbene Kerzen. Gewöhnlich stelle ich Räucherstäbchen selbst her, aber in Krisensituationen reichen auch gekaufte: Lavendel, Zedernholz und Zitronengras. Wir nahmen jede eine Kerze in die Hand, Anouk blies auf ihrer Spielzeugtrompete, während ich mit einem alten Löffel auf eine Kasserolle schlug, und dann stampften wir zehn Minuten lang durch das ganze Haus, durch jeden Raum, schrien und sangen aus voller Kehle – Raus! Raus! Raus! –, bis die Wände wackelten und die entsetzten Geister die Flucht ergriffen. Zurück blieben ein schwacher Geruch nach Verbranntem und jede Menge abgefallener Putz. Wenn man hinter die brüchigen, geschwärzten Tapeten schaut, hinter die Traurigkeit der zurückgelassenen Gegenstände, beginnt man, schwache Umrisse zu erkennen, wie das Nachbild einer Wunderkerze – hier eine in glänzendem Gold bemalte Wand, dort ein Ohrensessel, einbißchen abgewetzt, aber strahlend orangefarben, die alte Markise, die mit einemmal bunt aufleuchtet, wenn man die
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