Chocolat
verschossenen Farben unter der dicken Schmutzschicht entdeckt. Raus! Raus! Raus! Anouk und Pantoufle stampften und sangen, und die blassen Bilder schienen deutlicher zu werden – ein roter Hocker neben der Theke, ein paar Glöckchen über der Eingangstür. Natürlich weiß ich, daß es nur ein Spiel ist. Es liegt Arbeit vor uns, harte Arbeit, bis all das Wirklichkeit wird. Doch einen Moment lang genügt es zu wissen, daß das Haus uns willkommen heißt, so wie wir es auch willkommen heißen. Steinsalz und Brot auf der Türschwelle, um die Hausgötter zu besänftigen. Sandelholz auf dem Kopfkissen, um unsere Träume zu versüßen.
Später erklärte Anouk, Pantoufle habe jetzt keine Angst mehr, und dann war es gut.
Wir schliefen gemeinsam in unseren Kleidern auf der mit Mehlstaub bedeckten Matratze, und als wir aufwachten, war es Morgen.
12. Februar
Aschermittwoch
Wir wurden tatsächlich von den Glocken geweckt. Mir war nicht bewußt gewesen, wie nah bei der Kirche wir wohnten, bis ich die Glocken hörte, ein tiefer, schwingender Ton, der sich im Takt mit einem hellen Läuten – dong da-di-dadi dong – abwechselte. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war sechs Uhr früh. Graugoldenes Licht fiel durch die Ritzen in den windschiefen Fensterläden auf das Bett. Ich stand auf und sah hinaus auf den Dorfplatz und das regennasse, glänzende Kopfsteinpflaster. Der eckige, weiße Kirchturm leuchtete im Licht der Morgensonne, während dieSchaufenster der Läden rings um den Platz noch dunkel waren. Es gab eine Bäckerei, einen Blumenladen, ein Geschäft für Friedhofsbedarf: Gedenktafeln, steinerne Engel, unvergängliche Rosen aus Emaille … Zwischen den Häuserfassaden mit den diskret verschlossenen Fensterläden ragt der Kirchturm wie ein Leuchtturm in den Himmel, die römischen Ziffern der Turmuhr leuchten um sechs Uhr zwanzig rotgolden, als wollten sie den Teufel abschrecken, während die Jungfrau Maria von ihrer schwindelerregend hoch gelegenen Nische aus mit einer leicht überdrüssigen Miene auf den Platz herunterschaut. Auf der Spitze des gedrungenen Turms zeigt eine Wetterfahne in Gestalt eines Mannes in Mönchsrobe mit einer Sichel in der Hand die Windrichtung an – West bis Westnordwest. Von meinem Balkon mit den toten Geranien aus konnte ich die ersten Kirchgänger sehen. Ich erkannte die Frau mit dem karierten Mantel, die mir beim Karnevalsumzug aufgefallen war; ich winkte ihr zu, doch sie eilte weiter, ohne meinen Gruß zu erwidern, und zog ihren Mantel fest um sich. Der Mann mit dem Filzhut und dem traurigen braunen Hund, der kurz danach den Platz überquerte, schenkte mir ein zaghaftes Lächeln. Ich wünschte ihm freundlich einen guten Morgen, doch ein solch ungezwungenes Verhalten verstieß offenbar gegen die Dorfetikette, denn er reagierte nicht darauf, sondern ging hastig in die Kirche und nahm den Hund gleich mit. Danach schaute niemand mehr zu meinem Balkon herauf, obwohl ich über sechzig Köpfe zählte – Kopftücher, Baskenmützen, zum Schutz gegen den unsichtbaren Wind tief in die Stirn gezogene Hüte –, doch ich spürte ihre Neugier, die sich unter der einstudierten Gleichgültigkeit verbarg. Wir sind mit wichtigen Dingen beschäftigt, sagten ihre eingezogenen Schultern und gesenkten Köpfe. Wie verdrossene Schulkinder schlurften sie über das Kopfsteinpflaster. Der Mann da hat heute mit dem Rauchen aufgehört, dachte ich; dieser dort hat sich vorgenommen, nicht mehr regelmäßig ins Café zu gehen, jene Frau wird auf ihre Lieblingsspeisen verzichten.Natürlich geht mich das alles nichts an. Aber in diesem Augenblick sagte ich mir, wenn es je ein Dorf gegeben hat, das dringend ein bißchen Verzauberung nötig hatte … Alte Angewohnheiten brechen immer wieder durch. Und wenn man einmal gemerkt hat, daß man in der Lage ist, Wünsche zu erfüllen, wird man den Impuls nie wieder los. Und außerdem hatte sich der Karnevalswind immer noch nicht gelegt, der schwache Duft von Bratfett und Zuckerwatte und Schießpulver, der scharfe Geruch, der den Jahreszeitenwechsel ankündigt, lag immer noch in der Luft, ließ es einem in den Fingern jucken und das Herz höher schlagen … Eine Zeitlang werden wir also bleiben. Eine Zeitlang. Bis der Wind sich dreht.
Im Kramladen kauften wir Farbe, Pinsel, Rollen, Seife und Eimer. Wir begannen im ersten Stock und arbeiteten uns nach unten vor, warfen alte Vorhänge und kaputte Möbel auf den wachsenden Haufen in dem kleinen Garten hinter dem Haus,
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