Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
auftauchen, und die Gefahr wäre sowieso vorüber. Bis es so weit war, würde Clarissa ihm aus dem Weg gehen und darauf achten, dass sie nicht mehr allein mit ihm im Haus blieb. Für einen kurzen Moment überlegte sie sogar, heimlich ein Messer aus der Küche mitzunehmen, für alle Fälle, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Damit würde sie nur noch größeres Unglück provozieren. Wenn Frank einigermaßen bei Verstand war, würde er sich von ihr fernhalten und sich das, was er suchte, bei einem leichten Mädchen holen.
»Warum heiratet er sie bloß?«, fragte Clarissa am Samstagnachmittag die Köchin. Sie standen gemeinsam in der Küche und bereiteten das Essen für die Einladung vor. Zwanzig Personen waren angemeldet, darunter der Bürgermeister, der Chef des neuen Elektrizitätswerks und der Besitzer der Gießerei, alle mit ihren Gattinnen. »Ohne seine Verlobte hätte er doch freie Bahn.«
»Weil sie aus einer reichen Familie kommt.« Betsy probierte die Vorspeise, schüttelte den Kopf und gab etwas Salz und Pfeffer nach. »Ihr Vater ist ein hohes Tier bei der Southern Ontario Railroad. Liegt doch nahe, dass er so eine ins Haus holt. Würde mich nicht wundern, wenn sich die Canadian Pacific und die Southern Ontario bald zusammenschließen würden. So läuft das in den Kreisen. Kerle wie der denken doch selbst beim Heiraten ans Geschäft.«
»Wenn ich seine Verlobte wäre, würde ich mich weigern.«
Betsy probierte wieder und nickte zufrieden. »Die wird gar nicht gefragt. Ihr Vater hat erfahren, dass die Whittlers was bei der Canadian Pacific zu sagen haben, und sie nach Vancouver mitgeschickt. Der kann es wahrscheinlich gar nicht erwarten, dass sein Töchterchen den Whittler-Sohn heiratet und er einen großen Coup mit der Canadian Pacific landen kann. Glaub mir, ich weiß Bescheid. So lief das bei allen reichen Familien, für die ich gekocht habe. Aus Liebe hat kein Einziger von denen geheiratet. Und so einer wie Frank schon gar nicht.«
»Mit mir könnten sie so was nicht machen«, erwiderte Clarissa, »ich würde nur aus Liebe heiraten. Wenn das nicht klappt, bleibe ich lieber allein. Was will ich mit einem Mann, der nur mein Geld will und sich das, worauf es ankommt, bei anderen Frauen holt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ohne mich, Betsy! Lieber bleibe ich mein ganzes Leben allein. Du schaffst es doch auch.«
Betsy nickte traurig. »Und rackere mich als Köchin ab. Aber ich war auch mal verheiratet … mit achtzehn. Mit einem Mann, der dreizehn Jahre älter war als ich. Ich habe ihn geliebt, Clarissa, ob du’s glaubst oder nicht, ich habe ihn geliebt und ein halbes Jahr geheult, als er sich diese verfluchte Lungenentzündung einfing. Als er tot war, durfte ich ihn nicht einmal mehr sehen!«
Pünktlich um neunzehn Uhr erschienen die ersten Gäste. Im Salon war bereits gedeckt, und die Flaschen mit dem Champagner und die Gläser für die Begrüßungsdrinks standen auf einem Servierwagen. Clarissas Aufgabe war es, die Gäste einzulassen und ihre Mäntel in die Garderobe zu hängen. Die meisten behandelten sie von oben herab oder straften sie mit Nichtachtung, bedankten sich nicht einmal, wenn sie ihre Mäntel entgegennahm und ihnen den Weg zum Salon wies. Doch daran störte sie sich schon lange nicht mehr.
Der einzige Gast, der sie zu beachten schien, war Frank Whittler. Jedes Mal, wenn sie ihn bediente oder sich ihre Blicke zufällig kreuzten, lächelte er ihr verschwörerisch zu, als wollte er sie daran erinnern, was er vor einigen Tagen zu ihr gesagt hatte. Sie ging ihm, so gut es ging, aus dem Weg und tröstete sich damit, dass ihr in dieser Gesellschaft nichts passieren konnte. Solange sich so viele Menschen im Haus aufhielten, war sie sicher. Und die Geschmacklosigkeit, sich ihr ausgerechnet in seiner Verlobungsnacht zu nähern, würde selbst ein Mistkerl wie er nicht begehen. Catherine war eine hübsche Frau, selbstgefällig, hochnäsig und eingebildet, aber ganz sicher imstande, seine Bedürfnisse zu befriedigen, selbst wenn sie nicht seine Traumfrau war.
Nach dem Essen musste Clarissa noch einmal Champagner servieren, bekam aber nur von draußen mit, wie Thomas Whittler mit seiner sonoren Bassstimme die Verlobung seines Sohnes ankündigte und ihn und seine zukünftige Schwiegertochter hochleben ließ. »Auf Catherine und Frank!«, rief er. Falls sein Sohn etwas sagte, ging es im fröhlichen Applaus der Gäste unter. »Na, das ist ja eine gelungene Überraschung!«, hörte sie den
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