Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Amulett aus Hechtzähnen, das Glück bei der Jagd brachte. Anschließend trugen die Männer das Boot zum Ufer. Nachdem sie zwei schwere Steine an Bug und Heck festgebunden hatten, stieg Bales Vater in sein eigenes Hautboot und zog das Boot seines Sohnes langsam ins offene Meer hinaus.
Die anderen schritten zum Festmahl hinüber, nur Torak blieb stehen und sah zu, wie die beiden Boote immer kleiner wurden. Sobald das Land nicht mehr zu sehen war, würde Bales Vater den Speer nehmen, das Totenboot aufschlitzen und seinen Sohn hinab zur Meermutter schicken. Die Fische würden Bales Fleisch essen, so wie er sich früher von ihrem Fleisch ernährt hatte; wenn seine Hütte zu Asche zerfallen und die Asche in alle Winde zerstreut war, würde jede Spur von ihm verschwunden sein wie eine Welle, die ans Ufer schlägt und versiegt. Er kommt bestimmt zurück, dachte Torak. Er ist hier geboren, hier ist sein Zuhause. Er wird ganz allein sein, dort draußen im Meer.
Fin-Kedinn riss ihn aus seinen Gedanken. »Torak. Komm. Du musst am Festmahl teilnehmen.«
»Ich kann nicht«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
»Du musst aber.«
»Nein! Ich muss Thiazzi verfolgen.«
»Torak, es ist schon dunkel«, ließ sich Renn neben ihrem Onkel vernehmen, »nicht einmal der Mond scheint. Du kannst jetzt nicht gehen. Morgen brechen wir in aller Frühe auf.«
»Du musst deinem Blutsbruder die letzte Ehre erweisen«, sagte Fin-Kedinn streng.
Torak wandte sich ihm zu. »Meinem Blutsbruder? So müssen wir ihn von nun an nennen, nicht wahr? Meinen Blutsbruder. Der Junge vom Robbenclan. Fünf Sommer lang, bis wir seinen Namen vergessen haben.«
»Wir werden ihn nie vergessen«, gab Fin-Kedinn zurück. »Aber so ist es nun einmal am besten. Das weißt du genau.«
»Bale«, sagte Torak klar und unmissverständlich. »Das war sein Name. Bale.«
Renn keuchte entsetzt auf.
Fin-Kedinn sah ihn mit schmalen Augen an.
»Bale«, wiederholte Torak. »Bale. Bale. Bale!«
Damit stürmte er an ihnen vorbei, rannte durch die gesamte Bucht und blieb erst vor den glimmenden Überresten von Bales Hütte stehen.
» Bale !«, brüllte er auf das kalte Meer hinaus. Wenn er damit Bales Rachegeist herausforderte, umso besser, ihm war es nur recht. Es war ja seine Schuld, dass Bale jetzt auf dem Meeresgrund lag. Hätte er sich nicht mit ihm gestritten, wäre Bale nicht allein auf die Klippe gegangen. Dann hätten sie gemeinsam gegen den Eichenschamanen gekämpft und Bale wäre noch am Leben.
Seine Schuld.
»Torak!«
Renn stand auf der anderen Seite des Feuers. Ihr bleiches Gesicht leuchtete in der Hitze. »Hör auf, seinen Namen zu nennen! Du rufst seinen Geist herbei!«
»Von mir aus!«, gab er zurück. »Das habe ich verdient!«
»Du hast ihn nicht umgebracht, Torak.«
»Aber es war meine Schuld . Wie soll ich damit leben?«
Darauf hatte sie keine Antwort.
»Fin-Kedinn hat recht!«, stieß er hervor. »Die Robben dürfen Bales Tod nicht rächen! Das ist meine Aufgabe.«
»Hör endlich auf, ständig seinen Namen …«
» Ich werde ihn rächen!«, schrie Torak. Er zückte sein Messer, nahm das Medizinhorn aus seinem Beutel und reckte die Arme zum Himmel. »Ich schwöre es dir, Bale, bei diesem Messer, diesem Horn und meinen drei Seelen – ich werde den Eichenschamanen jagen und ihn töten. Ich werde dich rächen!«
Kapitel 4
Wolf steht im Weichen Weißen Kalt am Fuße eines Berges und blickt zu Dunkelfell auf.
Sie ist viele Sprünge über ihm, schaut zu ihm herab. Er wittert ihren Geruch, hört den Wind durch ihr schönes schwarzes Fell streichen. Er peitscht mit dem Schwanz und winselt.
Dunkelfell wedelt mit ihrem Schwanz und winselt zurück. Aber das hier ist der Berg des Donnerers. Wolf kann nicht zu ihr hinauf und sie nicht zu ihm herunter.
Er hat sie während dem Langen Kalt sehr vermisst, sogar wenn er mit Groß Schwanzlos und seiner Rudelgefährtin gejagt oder Jag-den-Lemming gespielt hat; dann ganz besonders, weil Dunkelfell das sehr gut kann. Von allen Wölfen des Bergrudels vermisst Wolf Dunkelfell am meisten. Sie sind ein Atem, ein Knochen. Das spürt er in jeder Haarspitze.
Dunkelfell lässt sich auf die Vorderpfoten nieder und bellt. Komm doch! Die Jagd ist gut, das Rudel ist stark!
Wolf lässt den Schwanz hängen.
Ihr Bellen wird immer ungeduldiger.
Ich kann nicht! , sagt er ihr.
Sie stürmt in langen Sprüngen den Hang hinunter, das Weiche Weiße Kalt wirbelt zwischen ihren Pfoten auf und Wolfs Herz fliegt ihr entgegen.
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