Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Freudig springt er los, jagt so schnell dahin, dass er …
Wolf erwachte.
Er war nicht mehr in jenem Jetzt, in das er ging, wenn er schlief, sondern in dem anderen Jetzt, am Ufer des Großen Nass. Allein. Er vermisste Groß Schwanzlos und seine Rudelgefährtin. Er vermisste sogar die Raben, jedenfalls ein bisschen. Warum nur hatte ihn Groß Schwanzlos verlassen und war in einer dieser schwimmenden Häute davongefahren?
Wolf fand es abscheulich hier. Die harte Erde biss ihn in die Pfoten, und die Fischvögel gingen auf ihn los, sobald er ihren Nestern zu nahe kam. Eine Weile hatte er sich die Zeit damit vertrieben, die Höhlen der Schwanzlosen am Großen Nass zu erkunden und das Flinke Nass, das hier endete, scharf im Auge zu behalten, aber inzwischen war ihm sehr, sehr langweilig.
Die Schwanzlosen jagten nicht, sondern standen bloß herum und jaulten und heulten dabei einen Haufen Steine an. Anscheinend hielten sie manche Steine für wichtiger als andere, doch für Wolf rochen sie allesamt gleich. Außerdem fingen die Schwanzlosen sofort an zu streiten, wenn sie sich einen Stein gaben. Wenn ein normaler Wolf etwas verschenkt – einen Knochen oder einen interessanten Stock oder so etwas –, dann tut er das, weil er den anderen Wolf gut leiden kann und nicht, weil er sich über ihn ärgert.
Das Dunkel kam und die Schwanzlosen richteten sich für ihren endlosen Schlaf ein. Wolf erhob sich langsam und schnupperte ein bisschen zwischen den Höhlen herum. Misstrauisch machte er einen weiten Bogen um die Hunde, verspeiste ein paar Fische, die an Stöcken hingen, und einen großen Brocken Fischhundspeck, der köstlich schmeckte. Als er eine Überpfote vor einer der Höhlen entdeckte, verspeiste er sie ebenfalls. Als das Hell kam, trottete er in den Wald zurück, machte sich aus niedergetretenem Farn einen gemütlichen Schlafplatz, legte sich hin und schlummerte ein bisschen.
Der Geruch riss ihn augenblicklich aus dem Schlaf.
Seine Krallen zogen sich zusammen, sein Fell sträubte sich. Er kannte diesen Geruch. Er erinnerte ihn an schlimme Dinge und auch seine Schwanzspitze tat sofort wieder weh.
Der Geruch war kräftig und führte Nass hoch. Knurrend sprang Wolf auf und rannte hinterher.
»Das habe ich dir doch gesagt«, erklärte der Jäger vom Seeadlerclan und band dabei einige Rehbockgeweihe zu einem Bündel zusammen. »Ich habe nur gesehen, wie ein großer Mann ans Ufer kam. Mehr nicht.«
»Und in welche Richtung ist er gegangen?«, bohrte Torak weiter. Renn, die einen Becher mit heißem Birkenblut in den Händen drehte, fragte sich, wie lange der Seeadler sich dieses Verhör noch gefallen lassen würde.
»Keine Ahnung!«, gab der Jäger gereizt zurück. »Ich hatte zu tun. Ich wollte tauschen.«
»Ich glaube, er ging flussaufwärts«, bemerkte seine Gefährtin.
»Flussaufwärts«, wiederholte Torak.
»Das kann alles Mögliche bedeuten«, sagte Renn, aber da war Torak auch schon losgerannt, hinüber zum Rabenlager, dorthin, wo ihre Boote lagen.
Seit Bales Bestattungszeremonie waren zwei Tage vergangen. Nach einer anstrengenden Überfahrt hatten sie den Tauschplatz an der Küste erreicht. Dichter Nebel hüllte die Lager am Strand und die Mündung des Elchflusses ein. Weiden, Seeadler, Tang, Raben und Kormorane: Alle Clans waren hier zusammengekommen, um Hörner und Geweihe gegen Robbenhäute und Feuersteine zu tauschen. Fin-Kedinn war dabei, dem Walclan die geliehenen Hautboote zurückzugeben, und Rip und Rek hatten sich zum Schlafen in einer Kiefer niedergelassen. Von Wolf war keine Spur zu sehen.
Renn lief los, um Torak einzuholen, der sich rücksichtslos durch die Menge drängte, ohne sich um die zornigen Blicke der anderen zu kümmern. »Torak, warte doch!« Sie vergewisserte sich rasch, dass keine unliebsamen Zuhörer in der Nähe waren, und fuhr leise fort: »Hast du schon mal daran gedacht, dass es sich dabei um eine Falle handeln könnte? Es wäre nicht die erste, die dir die Seelenesser stellen.«
»Mir egal«, sagte Torak.
»Denk doch mal nach! Irgendwo dort draußen stecken Thiazzi und Eostra, die beiden letzten und mächtigsten Seelenesser.«
»Ich hab doch gesagt, es ist mir egal! Er hat meinen Blutsbruder getötet. Ich bringe ihn um. Und erzähl mir bloß nicht, dass ich erst schlafen soll und wir morgen früh aufbrechen.«
»Das hatte ich auch gar nicht vor«, erwiderte sie ärgerlich. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich uns rasch ein paar Vorräte besorge.«
»Keine Zeit. Er hat
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