Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
Schwanzlosen gehörten nicht zu den Feinden der Wölfe. Feinde waren Bären und Luchse, die in einen Wolfsbau eindringen und die Jungen totbeißen – aber doch nicht die Schwanzlosen!
Wolf war zwar auch schon schlechten Schwanzlosen begegnet, und sogar die guten knurrten manchmal und wedelten mit den Vorderpfoten, wenn er ihrem Fleisch zu nahe kam, aber ohne Vorwarnung über jemanden herfallen? Kein anständiger Wolf tat so etwas.
Wolf spitzte die Ohren, strengte Augen und Nase an und beobachtete, wie sich das schlechte Rudel rings um das Helle Tier niederließ. Mit Mühe drehte er die platt gedrückten Ohren und schnüffelte, um die verschiedenen Witterungen den einzelnen Schwanzlosen zuzuordnen.
Das schlanke Weibchen roch nach jungem Laub, aber seine Zunge war schwarz und spitz wie die einer Natter und sein Lächeln war irgendwie falsch.
Das andere Weibchen, das große mit den krummen Hinterläufen, war schlau und gerissen, aber Wolf spürte, dass es seinen Platz im Rudel noch nicht gefunden hatte und überhaupt ziemlich unsicher war. Auf seinem Überpelz lag ein Fetzen stinkendes Fell. Fell von der fremden Beute, mit der man ihn in die Fallgrube gelockt hatte.
Dann gab es noch ein riesengroßes Männchen mit langem bleichem Fell auf dem Kopf und an der Schnauze. Sein Atem roch nach Fichtenblut. Er war von den dreien der Schlimmste, weil er grausam war. Er hatte gelacht, als er Wolf auf den Schwanz getreten war, und hatte ihn mit der Großen Kalten Klaue in die Pfote gestochen.
Dieser Bleichpelz stellte sich nun auf die Hinterpfoten und kam zu Wolf herüber.
Wolf knurrte dumpf.
Bleichpelz bleckte die Zähne und kam mit seiner großen Klaue ganz dicht an Wolfs Schnauze heran.
Wolf zuckte zurück.
Bleichpelz lachte und weidete sich an Wolfs Furcht.
Aber was war das? Wolf konnte die Schnauze wieder aufmachen! Bleichpelz hatte die Rehhaut durchgeschnitten!
Wolf wollte aufspringen und weglaufen – aber die Rehhaut hielt ihn immer noch fest, und er konnte den Kopf nicht weit genug drehen, um sie durchzubeißen.
Nun kam das krummbeinige Weibchen mit dem stinkenden Fell herbei.
Bleichpelz stieß noch einmal mit der Klaue nach Wolf, aber Stinkfell knurrte drohend. Bleichpelz funkelte sie an, um klarzustellen, wer hier der Anführer war, dann verzog er sich.
Stinkfell hockte sich neben Wolf und schob ein Stück Elchfleisch durch ein Loch in der Rehhaut.
Wolf beachtete das Fleisch nicht. Hielten ihn die Schwanzlosen für einen Hund, der von jedem Futter annimmt?
Stinkfell zuckte die Achseln und ging wieder weg.
Jetzt verließ das natternzüngige Weibchen das Helle Tier und kam zu ihm. Sie kauerte sich hin und redete leise auf ihn ein.
Unwillkürlich lauschte er. Ihre Stimme erinnerte ihn an Groß Schwanzlos’ Rudelgefährtin, die klug und immer ein wenig unwirsch sprach, es aber im Grunde gut meinte. Außerdem witterte Wolf, dass sich dieses Weibchen nicht vor ihm fürchtete, sondern einfach nur neugierig war.
Als sie die Vorderpfote ausstreckte, zuckte er zurück, aber sie wollte ihm nichts Böses. Stattdessen wurde seine Flanke kühl. Wolf schnupperte. Sie bestrich ihm das Fell mit Elchblut!
Von dem Geruch lief ihm das Wasser im Maul zusammen und er vergaß alles andere. Mit einiger Mühe gelang es ihm doch, den Kopf zu drehen, und er leckte gierig drauflos.
Es kam ihm zwar sonderbar vor, dass das Weibchen so etwas tat, und ihre Stimme klang irgendwie verdächtig, aber er konnte nicht aufhören. Blutgier hatte ihn gepackt und schon durchströmte die Kraft des Elchs seine Glieder. Er leckte weiter.
Mit einem Mal war er furchtbar müde. Schwarzer Nebel machte sich in seinem Kopf breit, er konnte kaum noch die Augen offenhalten. Es kam ihm vor, als ob ein Felsbrocken auf ihm lastete.
Undeutlich vernahm er das leise, verschlagene Lachen des natternzüngigen Weibchens und begriff, dass sie ihn überlistet hatte. Sie hatte ihn verleitet, verdorbenes Elchblut von seinem Pelz abzuschlecken, und jetzt verschlang ihn das Dunkel.
Der schwarze Nebel wurde immer dichter. Furcht schnappte nach Wolf und hielt ihn fest in den Klauen. Mit einem allerletzten Aufbegehren heulte er stumm nach Groß Schwanzlos.
Kapitel 5
»HAST DU ANGST?«, fragte Torak.
»Ja«, antwortete Renn.
»Ich auch.«
Sie standen am Waldrand unter dem letzten – dem allerletzten – Baum. Vor ihnen erstreckte sich unter einem unendlich weiten Himmel eine öde weiße Landschaft. Hier und da hielt eine Krüppelkiefer dem Wüten des
Weitere Kostenlose Bücher