Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
Windes stand, sonst schien alles Leben erloschen.
Sie waren inzwischen so weit nördlich, wie kein Waldclan je gekommen war, mit Ausnahme von Fin-Kedinn, der als junger Mann in die gefrorenen Lande gewandert war. Im Laufe der beiden Tage nach der Begegnung mit dem Streuner hatten sie drei Täler durchquert und in der Ferne das Glitzern des Eisflusses am Fuß der Hohen Berge erspäht, wo die Raben im vorletzten Winter ihr Lager aufgeschlagen hatten und von wo aus Torak zum Berg des Weltgeistes aufgebrochen war.
Der Nordwind blies ihnen ins Gesicht, als sie die Fährte von Wolfs Entführern betrachteten – ein brutaler Messerschnitt in der Schneedecke.
»Ich glaube nicht, dass wir allein zurechtkommen«, wandte Renn ein. »Jemand muss uns helfen. Fin-Kedinn muss uns helfen.«
»Wir können jetzt nicht umkehren«, widersprach Torak. »Das dauert viel zu lange.«
Renn schwieg. Seit der Begegnung mit dem Streuner war sie ungewöhnlich still. Ob sie auch über die Worte des Alten nachdachte? Krumme Beine, flinker Verstand … die Falsche … Groß wie ein Baum … Torak hatte daran denken müssen, was ihm Fin-Kedinn von den Seelenessern erzählt hatte, aber er konnte sich nicht überwinden, mit Renn darüber zu sprechen. Es konnten nicht die Seelenesser gewesen sein. Wieso sollten sie statt seiner Wolf entführen?
Darum sagte er bloß: »Wolf braucht uns.«
Renn blieb stumm.
Mit einem Mal bekam Torak Angst. Angst, dass Renn umkehren und ihn allein lassen würde. Die Angst war so überwältigend, dass sie ihm die Luft abschnürte.
Er beobachtete, wie Renn den Schnee von ihrem Bogen wischte und die Waffe umhängte, und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
»Hast ja recht«, sagte sie schroff. »Komm.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, trat sie aus dem Schutz der Bäume.
Torak folgte ihr in das öde Land.
Kaum hatten sie den Wald verlassen, schien der Himmel schwer auf ihnen zu lasten, und der Nordwind blies ihnen spitze Eiskristalle ins Gesicht.
Im Wald war sich Torak des Windes stets bewusst – für einen Jäger war das unabdingbar –, aber abgesehen von gelegentlichen Stürmen war der Wind dort nie eine Bedrohung, denn der Wald hatte die Macht, ihn zu zähmen. Hier draußen konnte nichts den Wind bändigen. Er war stärker, kälter, wilder als im Wald, ein unsichtbarer böser Geist, der sich auf die schwächlichen Eindringlinge stürzte.
Es gab immer weniger, immer kümmerlichere Bäume, bis nur noch hier und da eine kniehohe Weide oder Birke auftauchte. Dann nichts mehr. Nichts Grünes, kein Jäger, keine Beute. Nichts als Schnee.
Torak warf einen Blick über die Schulter und erschrak, als er sah, dass der Wald zu einer kohlschwarzen Linie am Horizont zusammengeschrumpft war.
»Hier ist bestimmt die Welt zu Ende!«, übertönte Renn den Wind. »Wie lange geht das noch so weiter? Und wenn wir nun über den Rand fallen?«
»Wenn die Welt hier tatsächlich zu Ende ist, fallen Wolfs Entführer als Erste über den Rand«, entgegnete Torak.
Zu seiner Überraschung grinste Renn.
Der Tag verging. Die Schneedecke war hier fester als im Wald, sodass sie keine Schneeschuhe brauchten, aber der Nordwind formte den Schnee zu flachen, verkrusteten Graten, über die sie immer wieder stolperten.
Dann flaute der Wind jäh ab und wehte nur noch schwach von Nordosten.
Anfangs war Torak froh, dann begriff er, was los war. Er konnte seine eigenen Stiefel nicht mehr sehen. Geisterhafte Schneeschwaden wehten wie Rauch um seine Knöchel und löschten die Fährte aus.
»Der Wind verweht die Spuren!«, rief er. »Er weiß, dass wir darauf angwiesen sind, darum vernichtet er sie!«
Renn lief ein Stück voraus, um nachzusehen, ob die Fährte dort besser zu erkennen war. Sie breitete hilflos die Arme aus. »Nichts! Nicht mal du könntest etwas entdecken!«
Als sie zurückkam und Torak ihr Gesicht sah, verließ ihn aller Mut. Er wusste schon, was sie gleich sagen würde, denn er dachte dasselbe: »Das bringt nichts, Torak! Hier draußen kommen wir um. Wir müssen umkehren.«
»Aber andere Menschen kommen hier doch auch zurecht«, erwiderte er störrisch. »Die Eisclans, die Narwale, die Schneehühner und Eisfüchse. Das hat Fin-Kedinn gesagt, oder?«
»Die wissen eben, wie man sich hier durchschlägt. Wir nicht.«
»Aber … wir haben Räucherfleisch und Feuerholz dabei. Wir können uns nach dem Nordstern richten. Wir binden uns Rindenbast vor die Augen, damit wir nicht schneeblind werden, und… und jagen kann
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