Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
Herbst 1987. Ostberlin
E r war 18 Jahre, als die Staatssicherheit ihn auf dem Weg zur Arbeit abfing. Er hatte sie nicht kommen hören, er war müde und dachte an den Tag, der vor ihm lag. Sie packten ihn am Arm und stießen ihn in einen fingierten Lieferwagen. Niemand sagte ein Wort. Auch der Junge nicht. Er hörte sein Herz schlagen und fragte sich, was er verbrochen hatte.
Sie brachten ihn ins Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen. Dort musste er sich nackt ausziehen, mehrere Männer untersuchten seinen Körper, schauten ihm in den After und schoben seine Vorhaut zurück. Er wickelte seine Arme um seinen dürren Jungenkörper und schämte sich vor den Blicken. Dann bekam er ein Paar ausgeleierte braune Pantoffeln, einen blauen Trainingsanzug, Bettwäsche und Waschzeug und wurde in einen Raum gesperrt, in dem ein Bett, eine Toilette und ein Waschbecken standen. Der Junge weinte die ganze Nacht. Er bat nicht darum, jemanden anrufen zu dürfen, er wagte es nicht. Am nächsten Morgen brachte man ihn zum Verhör in einen anderen Stock des Gebäudes. Dort teilte man ihm mit, dass er wegen des Überfalls am 17. Oktober 1987 in der Zionskirche verhaftet worden sei. Zeugen hätten ausgesagt, er wäre der Anführer der Aktion gewesen. Ihm drohe gemäß Paragraph 215 StGB der DDR wegen Rowdytum eine Gefängnisstrafe bis zu 5 Jahren.
Der Junge versuchte ruhig zu bleiben. Er sagte, dass er nichts von dem Überfall gewusst hatte. Dass seine Freunde ihn mitgenommen hatten. Dass er auf keinen Fall die Aktion geplant hatte.
Der Mann am Schreibtisch, ein älterer Herr mit schütterem Haar und toten Augen, legte wortlos Fotos auf die Tischplatte. Sie zeigten den Jungen im allgemeinen Tumult der Prügelei. Auf einem Bild stand er vor einem Mann, der vor Schmerz zu schreien schien. Er hielt sich beide Hände vor das Gesicht, Blut quoll ihm durch die Finger. Auf einem anderen Foto kniete er vor einer Frau, die reglos und blutüberströmt auf dem Boden lag.
Der Junge betrachtete lange die Fotos. Er hörte wieder die Schreie und fühlte die Panik in sich aufsteigen. Die Frau auf dem Boden hatte wie tot dagelegen. Aber er hatte doch gar nichts gewusst.
Der Junge machte den Mann hinter dem Schreibtisch darauf aufmerksam, dass er auf keinem Bild eine Eisenstange oder einen abgebrochenen Flaschenhals wie die anderen bei sich trug. Dass er den Verletzten hatte helfen wollen. Er bemühte sich, das Zittern in der Stimme zu unterdrücken, und hoffte, dass sich das Missverständnis bald aufklären würde. Der Herr mit dem schütteren Haar notierte akribisch, was der Junge sagte, und schickte ihn zurück in seine Zelle.
In den Tagen und Nächten darauf wiederholte sich der Vorgang. Nachts hielten sie ihn mit Kontrollen, lautem Rufen und Lichtattacken wach. Bald schlief er gar nicht mehr. Er kauerte zitternd auf der Pritsche und horchte, ob sich wieder ein Wachmann mit lautem Stiefelknallen näherte oder ein anderer Häftling schrie. Am Tag saß er wieder vor dem Mann mit den toten Augen, hörte die Anklage und beteuerte erneut seine Unschuld.
In den folgenden Monaten der Verhöre, Demütigungen und des Schlafentzuges versuchte der Junge zweimal, sich das Leben zu nehmen. Einmal schluckte er einen vergessenen Rest Waschpulver der Marke Imi, was ihm eine Phosphatvergiftung und anschließende Magenspülung einbrachte. Der Arzt auf der Krankenstation spritzte ihm dreimal täglich Medikamente in den Bauch und sprach von einer Fehlsteuerung des Gehirns. Stumm beobachtete der Junge den Arzt und die Schwestern. Manchmal schien es ihm, als laufe Blut aus ihren Mündern und an den Händen wuchsen ihnen Krallen. Er fürchtete, verrückt zu werden, und wehrte sich gegen die Behandlung. Sie mussten ihn beim Spritzen mit drei Helfern ruhigstellen.
Nach zwei Wochen brachten sie ihn zurück in die Zelle. Wieder folgten Verhöre und nächtliche Störungen. Bei seinem zweiten Selbstmordversuch, am Abend seines 19. Geburtstages, knüpfte er zwischen zwei nächtlichen Kontrollen eine Schlinge in das Betttuch und hängte sich damit an einem Spalt am Fenster auf. Das Betttuch, mürbe von vielfacher Benutzung, riss unter der Belastung. Zu diesem Zeit punkt verhandelten bereits Unterhändler der Staatssicher heit mit den zuständigen Organen der BRD über einen Austausch. Nach einem halben Jahr wurde er gegen Devisen in Höhe von 10000 DM an die innerdeutsche Grenze gebracht und aus der DDR ausgewiesen.
Mitte der 90er Jahre kehrte der Junge, der nun ein Mann
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