Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
Rabenweibchen, das die Sonne aus ihrem Winterschlaf geweckt hatte und zur Strafe dafür versengt wurde.
Dieser Rabe interessierte sich eher für das Eichhörnchen und wagte sich mit stelzenden Schritten zögerlich näher.
»Jetzt?«, raunte Torak.
Renn schüttelte den Kopf.
Der Rabe pickte unschlüssig an dem Kadaver herum, machte einen Hüpfer … und flog davon. Er hatte sich nur vergewissern wollen, dass das Eichhörnchen tatsächlich tot war.
Da es sich nicht gerührt hatte, kamen nun beide Raben angeflogen und stolzierten bedächtig näher.
»Jetzt!«, sagte Renn tonlos.
Torak rieb sich mit der Salbe ein. Sie roch säuerlich, brannte in den Augen und kribbelte auf der Haut. Dann knotete er den Beutel auf und inhalierte den Rauchtrank.
»Immer weiteratmen«, flüsterte ihm Renn ins Ohr, »und ja nicht husten!«
Der Rauch war bitter, der Hustenreiz überwältigend. Renns Atem streifte seine Wange. »Möge der Hüter mit dir fliegen!«
Torak war ein bisschen übel. Er sah den großen Raben an den Innereien des Eichhörnchens zerren und verspürte seinerseits einen ziehenden Schmerz im Leib. Einen Augenblick lang überkam ihn panische Angst. Nein, nein, ich will nicht …
… und auf einmal riss er mit seinem kräftigen Schnabel dem Eichhörnchen die Eingeweide heraus und labte sich an gefrorenem Gedärm.
Rasch füllte er seinen Kehlsack, dann pickte er dem Kadaver ein Auge aus. Er kostete die glitschige Glätte auf der Zunge, schlug mit den Flügeln und schwang sich mit einem Hüpfer in den Wind, der ihn davontrug, dem Licht entgegen.
Der Wind war bitterkalt und von unvorstellbarer Gewalt, aber ihm ging vor Freude das Herz auf, als er immer höher getragen wurde. Er genoss den kalten Luftzug, der ihm durchs Gefieder fuhr, den Eisgeruch und das unbändige Gelächter des Windes, das ihm durch Mark und Bein ging. Es war herrlich, so mühelos emporzusteigen, sich mit dem leisesten Flügelschlag hierhin und dorthin zu drehen und zu wenden, und er freute sich an der Kraft seiner prächtigen schwarzen Schwingen!
»Wsch« machte es, und seine Gefährtin war neben ihm. Sie legte die Flügel an, ließ sich vom Wind umherwirbeln und forderte ihn mit anmutigen Schwanzschlägen zum Himmelstanz auf. Er segelte hinterdrein, hakte seine kalten Klauen in ihre, legte ebenfalls die Flügel an, und so stießen sie herab.
Sie stürzten durch die Kälte, durch einen Strudel aus schwarzem Gefieder und Sonnensplittern, und die weite weiße Welt kam ihnen entgegengesaust.
Dann lösten sie die Klauen gleichzeitig voneinander. Er breitete die Flügel aus, vertraute sich abermals dem Wind an, und schon schnellte er wieder empor, der Sonne entgegen …
Mit seinen Rabenaugen konnte er unendlich weit sehen. Weit weg im Osten trabte ein Fuchs als winziger Fleck durch den Schnee. Im Süden sah man den dunklen Saum des Waldes, im Westen das runzlige Eis auf dem zugefrorenen Meer und im Norden … zwei Gestalten.
Heiser krächzend nahm er die Verfolgung auf.
»Krah?«, rief seine verdutzte Gefährtin.
Er ließ sie hinter sich und das weiße Land glitt unter ihm dahin.
Als er sich seinem Ziel näherte, ließ er sich sinken, und in einem einzigen Augenblick prägte sich ihm die kleinste Einzelheit überdeutlich und unauslöschlich ein.
Er sah zwei Gestalten einen Schlitten ziehen. Er sah Wolf festgebunden auf dem Schlitten liegen. Er erkannte an der schwachen, fast unmerklichen Regung einer Pfote, dass Wolf noch lebte. Er sah, wie der größere Mann stehen blieb, die Kapuzenjacke über den Kopf zog und seinen Wamskragen lockerte, weil er schwitzte, und dabei erspähte er auch die blauschwarze Tätowierung auf seiner Brust, den dreizackigen Spieß, mit dem man Seelen fängt. Das Zeichen der Seelenesser.
Ein entsetztes Krächzen entfuhr seinem Rabenschnabel. Die Seelenesser! Die Seelenesser haben Wolf entführt!
Er flog wieder höher, die Sonne blendete ihn. Der Wind packte ihn, schüttelte ihn unsanft und schleuderte ihn von sich.
Sein Mut brach wie mürbes Eis.
Der Wind kreischte triumphierend.
Ein ziehender Schmerz im Leib … er war wieder Torak … und stürzte vom Himmel.
Kapitel 7
TORAK ERWACHTE im blauen Zwielicht der Schneehöhle. Das zornige Gelächter des Windes klang ihm noch in den Ohren.
Renn beugte sich mit bangem Gesicht über ihn. »Dank sei dem Geist! Ich versuche schon den ganzen Morgen, dich wach zu kriegen!«
»Den … ganzen Morgen?«, wiederholte Torak stockend. Er fühlte sich wie ein Stück
Weitere Kostenlose Bücher