Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
üppigen Speisen Italiens ebenso wie dem Gefühl des warmen Marmors unter meinen Füßen, weil Marius schamlos sündhaft-riesige Feuer in allen Zimmern des Palazzo brennen ließ. Seine sterblichen Freunde - das waren damals Menschen wie auch ich - schalten ihn unaufhörlich wegen seiner hohen Ausgaben: so viel Geld für Feuerholz und Öl und Kerzen. Und für Marius kamen natürlich nur die feinsten Kerzen aus Bienenwachs in Frage. Jeder Duft hatte für ihn eine Bedeutung.
Schluss mit diesen Gedanken! Erinnerungen können dich nicht mehr verletzen. Du kamst zu einem bestimmten Zwecke her, und du hast ihn erfüllt, und nun musst du zu denen gehen, die du liebst, zu deinen jungen Sterblichen, Benji und Sybelle, und du musst durchhalten. Das Leben war nicht länger eine Theaterbühne, auf der sich Banquos Geist immer und immer wieder an der grausigen Tafel einfand. Meine Seele schmerzte.
Also die Stufen hinauf. Leg dich für ein Weilchen inmitten dieser Ziegelmauern nieder, dort, wo man die Kleider des Kindes gefunden hatte. Leg dich zu diesem Kind, das hier ermordet wurde - so sagen wenigstens die Klatschmäuler, diese Vampire, die gekommen sind, um den mächtigen Vampir Lestat in s einem endymiongleichen Schlaf zu sehen, und die nun diese Hallen heimsuchen wie ein Spuk. Ich konnte nichts spüren von Mord, nur die sanften Stimmen der Nonnen klangen in mir wider.
Ich erklomm die Stufen, überließ meinen Körper seinem menschlichen Gewicht, seinem menschlich schweren Schritt.
Nach fünfhundert Jahren beherrsche ich diesen Kunstgriff. Auch ich könnte all den jungen Zöglingen einen gewaltigen Schrecken einjagen diesen Mitläufern und Gaffern -, genau wie es die anderen Alten konnten, selbst die bescheidensten, indem sie mit ein paar Worten ihre telepathischen Fähigkeiten ins rechte Licht rückten oder indem sie verschwanden, anstatt schlicht fortzugehen. Und hin und wieder setzten sie einfach ihre Kräfte ein, um das Gebäude in seinen Grundfesten erbeben zu lassen - eine nicht uninteressante Fähigkeit angesichts dieser Mauern, die vierzig Zentimeter dick und mit unverrottbaren Zypressenholzbalken bestückt sind.
Er muss die Düfte in diesem Gebäude mögen, dachte ich. Marius, wo ist er? Ehe ich Lestat aufgesucht hatte, war ich nicht sehr erpicht darauf gewesen, mit Marius zu sprechen, und hatte nur ein paar gerade noch höfliche Worte mit ihm gewechselt, als ich meine Lieblinge seiner Obhut überließ.
Immerhin hatte ich meine Kinder in einer Menagerie von Untoten untergebracht. Wer hätte für ihre Sicherheit besser garantieren können als mein geliebter Marius, dessen Macht so groß ist, dass niemand hier es wagt, sich seiner kleinsten Bitte zu widersetzen? Naturgemäß gibt es zwischen uns kein telepathisches Band - Marius hat mich geschaffen, ich bin für immer sein Zögling -, doch sobald mir das in den Sinn kam, merkte ich auch ohne dieses Band, dass ich seine Gegenwart nicht im Haus spürte. Ich wusste nicht, was in diesem kurzen Zeitraum geschehen war, während ich neben Lestat gekniet hatte. Ich wusste nicht, wo Marius war. Auch Benjis und Sybelles vertraute menschliche Gerüche konnte ich nicht wahrnehmen. Ein kleiner Anflug von Panik lahmte mich. Ich blieb im zweiten Stockwerk stehen. Ich lehnte mich gegen die Wand, hielt meine Augen mit entschlossener Ruhe auf den dunkel gebeizten Pinienholzboden geheftet. Das Licht warf kleine gelbe Kringel auf die Dielen.
Wo waren die beiden, Benji und Sybelle? Was hatte ich angerichtet, als ich sie herbrachte, diese beiden blühenden, großartigen Menschenkinder? Benji war ein lebhafter Junge von zwölf Jahren, Sybelle eine junge Frau von fünfundzwanzig. Was, wenn Marius, der an sich so großherzig war, sie unachtsamerweise aus den Augen verloren hatte?
»Ich bin hier, mein Junge.« Die Stimme kam plötzlich, war sanft, willkommen heißend.
Mein Erzeuger stand auf dem Treppenabsatz direkt unter mir, war wohl hinter mir die Stufen hinaufgestiegen, oder, was wahrscheinlicher war, hatte sich mit seinen übernatürlichen Kräften unmittelbar dorthin versetzt, indem er die Entfernung mit unhörbarer, unsichtbarer Schnelligkeit überbrückt hatte. »Herr«, sagte ich und zeigte dabei den Hauch eines Lächelns, »einen Moment lang hatte ich Angst um sie.« Mit den Worten leistete ich Abbitte. »Dieser Ort macht mich traurig.« Er nickte. »Sie sind bei mir, Armand«, sagte er. »Die Stadt wimmelt von Sterblichen. Es gibt Nahrung genug für alle vagabundierenden
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