Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
Erschrocken riss er die Augen auf. »Den Drachen Taragor?«
»Eben den«, bestätigte Cluaran und musterte Adrian scharf. »Du hast von ihm gehört?«
»Ich habe ihn gesehen«, sagte Adrian sehr leise. »Als das Schiff unterging.«
Cluaran nickte, als hätte Adrian nur etwas bestätigt, was er schon vermutet hatte. »Taragor …« Er brach ab und setzte erneut an. »Taragor kennt das Schwert. Das Schwert hat ihn vor fünf Dutzend Wintern im Schneeland gefangen genommen. Orgrim glaubte offensichtlich, wer einen Drachen rufen kann, könne über ihn auch gebieten. Er glaubte allen Ernstes, einen Eisdrachen beherrschen zu können!« Der Sänger presste die Lippen aufeinander. Seine Stimme klang hart. »Es ist sicherer, gar nichts zu wissen, als nur wenig und das Wenige unklug zu verwenden.« Er schloss das Buch – Elsa fiel auf, dass er die Seiten immer noch so wenig wie möglich berührte – und wandte sich dem unordentlich gebundenen Stapel daneben zu.
»Das sind Orgrims Zaubersprüche«, fuhr er fort, »die Sprüche, mit denen er selbst arbeitete. Auf den letzten Seiten …«, er blickte Elsa und Adrian düster an, »versuchte er einen Gott zu beschwören.«
»Aber das ist Gotteslästerung!«, sagte Elsa erschrocken.
»Welchen Gott?«, fragte Adrian.
»Lasst mich ausreden!«, sagte Cluaran barsch. »Ich wollte das eigentlich niemandem erzählen, aber ihr müsst es wissen. Es betrifft vor allem dich, Elsa, aber meines Wissens auch Adrian.« Elsa sah den Sänger ängstlich an.
»Ich spreche nicht von dem Gott, den deine Mönche anbeten«, fuhr Cluaran an Elsa gewandt leise fort, »und auch nicht von den Göttern dieses Landes. Orgrim wollte einen der alten Götter aus jener Zeit rufen, als Wessex und Sussex noch keine Königreiche waren und noch keine Menschen hier lebten. Einen der ersten Herrscher der Erde, der Meere und der Luft.« Er klang auf einmal, als deklamiere er den Text eines seiner Lieder. »Einer von ihnen wollte die ganze Welt einschließlich aller Dinge auf ihr beherrschen. Er bekriegte seine Mitgötter und wollte auch ihre Macht an sich reißen, und als das nicht gelang, wollte er zerstören, was sie geschaffen hatten. Die Götter setzten ihn unter einem Berg im hohen Norden gefangen, wo er keinen Schaden anrichten konnte. Und dort blieb er auch, durch Zaubersprüche in einen feurigen Schlund gebannt. Dieser Gott hieß Loki, der Verschlagene.«
Cluarans Augen verdunkelten sich. »Dann kamen die ersten Menschen und erfanden neue Götter – die, denen deine Mutter opferte, damit du wohlbehalten ans Ziel gelangst, Adrian, und den einen Gott, der in deinen Gotteshäusern wohnt, Elsa. Die älteren Götter gerieten in Vergessenheit und starben, doch Loki lebte unter seinem Berg weiter und wurde immer stärker und tückischer. Und endlich fand er einen Weg in die Köpfe der Menschen seiner Umgebung.«
»Orgrim«, flüsterte Adrian.
»Nein, das erste Mal liegt bereits hundert Jahre zurück«, erwiderte Cluaran. »Der Mensch, an den Loki sich wandte, war ein böser Zauberer wie Orgrim. Loki versprach ihm unvorstellbare Macht, wenn es ihm gelang, ihn zu befreien.« Cluaran blickte über ihre Köpfe hinweg nachdenklich in die Ferne. »Der Zauberer bot ganze Armeen auf und rief mithilfe dieses Buches der Nekromantie Drachen als Verstärkung seiner Armeen zu Hilfe.«
»Aber Drachen gibt es doch gar nicht!«, platzte Elsa heraus.
Cluaran sah sie an. Sein Blick war unergründlich. »Dass du noch keine Drachen gesehen hast, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Sie wurden von Sterblichen, die sie bändigen konnten, hoch oben im Norden eingesperrt, wo keine Menschen leben. Nur ein geheimnisvoller Zauber kann sie aus dem Eis befreien. Lokis Zauberer jedenfalls stieß mit seiner Armee zu ihnen. Ein schrecklicher Krieg brach aus und die Menschen, die wussten, dass Loki Tod und Vernichtung bedeutete, hätten ihn fast verloren. Damals wurde das Kristallschwert geschmiedet.«
»Mein Schwert!«, brach es aus Elsa heraus. Im nächsten Augenblick wünschte sie, sie könnte die Worte zurücknehmen.
»Ja, Elsa, dein Schwert. Es wurde geschaffen, um Loki zu besiegen. Es schneidet durch alles, egal, ob Fleisch, Metall oder Stein. Umgekehrt könnte auch nur dieses Schwert Loki befreien und die Ketten zerteilen, mit denen ein Zauber ihn gefesselt hat. Wir, die wir das Schwert schmiedeten, wussten das und nahmen es in Kauf.« Er sah plötzlich traurig aus. »Der erste Träger des Schwertes konnte Loki und den
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