Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
die Charlotte und Will auf der Haut trugen. Diese Zeichnungen wurden mithilfe einer sogenannten »Stele« in die Haut aller ausgebildeten Schattenjäger geritzt - Tessa erinnerte sich an das seltsame griffelähnliche Objekt, das Will im Dunklen Haus zum Öffnen einer Tür benutzt hatte. Die Male boten den Nephilim alle möglichen Formen von Schutz: schnelle Heilung, Stärke und Schnelligkeit, Nachtsicht und sogar die Möglichkeit, sich mithilfe einer Rune namens »Zauberglanz« vor Irdischen unsichtbar zu machen. Doch sie standen nicht jedermann zur freien Verfügung: Versah man einen Menschen oder einen Schattenweltler mit einem dieser Male, hatte das unerträgliche Schmerzen zur Folge, die den Betreffenden letztendlich in den Wahnsinn oder sogar in den Tod trieben.
Aber die Nephilim schützten sich nicht nur mithilfe der Runenmale - sie trugen auch robuste, mit magischen Symbolen versehene Lederkleidung als Kampfmontur. Der Codex zeigte Abbildungen der verschiedenen Kampfmonturen in unterschiedlichen Ländern und zu Tessas Überraschung waren auch Zeichnungen von Frauen in langärmligen Hemden und Hosen darunter - keine Pumphosen, wie Tessa sie in Karikaturen gesehen hatte, sondern richtige Herrenhosen. Während sie die Seite umblätterte, fragte sie sich kopfschüttelnd, ob Charlotte und Jessamine derart befremdlich anmutende Kleidung tatsächlich trugen.
Die nächsten Seiten beschäftigten sich mit den anderen Gaben, die Raziel den ersten Schattenjägern überreicht hatte: mächtige magische Objekte namens Engelsinsignien und ein eigenes Heimatland, ein winziges Fleckchen Erde, herausgeschnitten aus dem damaligen Heiligen Römischen Reich und von Schutzschilden umgeben, sodass kein Irdischer es betreten konnte. Diese Heimat der Nephilim hieß Idris.
Im flackernden Schein der Lampe las Tessa Seite um Seite, obwohl ihre Lider immer schwerer wurden. Schattenweltler, so erfuhr sie, waren übernatürliche Wesen - genau wie Feen und Elben, Werwölfe, Vampire und Hexenwesen. Bei den Vampiren und Werwölfen handelte es sich um Menschen, die sich mit einer Dämonenkrankheit angesteckt hatten. Feenwesen stammten dagegen zur Hälfte von Dämonen und zur Hälfte von Engeln ab und zeichneten sich deshalb durch große Schönheit und einen bösartigen Charakter aus. Und Hexenwesen waren direkte Nachfahren eines Menschen und eines Dämons - kein Wunder, dass Charlotte sie gefragt hatte, ob sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter menschlicher Herkunft seien. Und das traf doch auf ihre Eltern zu, überlegte Tessa. Daher kann ich keine Hexe sein, Gott sei Dank! Sie schaute wieder in das Buch und betrachtete eine Abbildung, die einen großen Mann mit wirren Haaren zeigte: Er stand in der Mitte eines Pentagramms, das auf den Steinboden unter seinen Füßen gezeichnet worden war, und wirkte völlig normal - wenn man einmal von der Tatsache absah, dass er katzenartige Pupillen besaß. In jeder der fünf Ecken des sternförmigen Kreidesymbols brannte eine Kerze. Während Tessa das Bild betrachtete, verschwammen ihre Augen vor Erschöpfung immer mehr, bis die Flammen miteinander zu verschmelzen schienen. Schließlich fielen ihr die Lider zu und sie versank sofort in einen tiefen Traum.
In ihrem Traum tanzte sie durch wirbelnde Rauchfahnen in einem langen, von Spiegeln gesäumten Korridor. Und jeder Spiegel, den sie passierte, zeigte ein anderes Bild von ihr. Sehnsuchtsvolle, schwermütige Musik drang an ihr Ohr, Musik, die aus großer Ferne zu kommen schien und sie gleichzeitig von allen Seiten umhüllte. Vor ihr ging ein Mann, sehr jung, schlank und bartlos - doch obwohl sie das Gefühl hatte, ihn zu kennen, konnte sie ihn nicht identifizieren, denn sein Gesicht war nicht zu sehen. Er hätte ihr Bruder sein können oder Will oder jemand völlig anderes. Sie folgte ihm, rief ihm etwas hinterher, doch er bewegte sich so schnell durch den Korridor, als würde der Rauch ihn mit sich tragen. Die Musik schwoll immer stärker an, lauter und lauter ...
Tessa erwachte ruckartig. Ihr Atem ging stoßweise und das Buch rutschte ihr vom Schoß, während sie sich aufsetzte. Der Traum war verschwunden, aber die Musik blieb, sehnsuchtsvoll und lieblich. Neugierig lief Tessa zur Tür und spähte hinaus in den Flur.
Hier klang die Musik noch lauter und Tessa erkannte, dass sie aus einem Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors kam. Die Tür war nur angelehnt und die Töne schienen aus dem schmalen Spalt zu perlen wie Wasser aus dem Hals
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