Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
nicht wahr? Und warum sind Sie nach London gekommen ...?«
Verwirrt hob Jem eine Hand und unterbrach Tessa. »Sie stellen ziemlich viele Fragen, finden Sie nicht?«
»Mein Bruder pflegte immer zu sagen, Neugierde sei eine meiner hartnäckigsten Untugenden.«
»Von allen Untugenden ist sie jedoch bei Weitem nicht die schlimmste.« Jem ließ sich auf der Koffertruhe am Fuß des Betts nieder und betrachtete Tessa mit ruhigem Interesse. »Dann legen Sie mal los: Fragen Sie mich, was immer Sie wollen. Ich kann ohnehin nicht schlafen und mir ist jede Form von Ablenkung willkommen.«
Sofort hörte Tessa Wills Stimme in ihrem Hinterkopf: Jems Eltern waren von Dämonen getötet worden. Aber dazu kann ich ihn unmöglich befragen, überlegte Tessa und antwortete stattdessen: »Will hat mir erzählt, dass Sie von sehr weit her kommen. Wo haben Sie denn vorher gelebt?«
»In Shanghai«, sagte Jem. »Wissen Sie, wo das liegt?«
»In China«, erwiderte Tessa, mit leichter Entrüstung in der Stimme. »Weiß das nicht jedes Kind?«
Jem grinste. »Sie wären überrascht.«
»Und was haben Sie in China gemacht?«, fragte Tessa, aufrichtig interessiert. Sie konnte sich einfach keine Vorstellung davon machen, woher Jem genau stammte. Beim Gedanken an China fielen ihr nur Bilder von Marco Polo und von Tee ein. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Ort sehr, sehr weit entfernt lag, als wäre Jem vom anderen Ende der Welt gekommen. »Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen«, hätte ihre Tante Harriet dazu gesagt. »Ich dachte, bis auf Missionare und Seeleute würde niemand dorthin reisen«, fügte sie hinzu.
»Schattenjäger leben über die ganze Welt verteilt. Meine Mutter war Chinesin, mein Vater Engländer. Sie haben sich in London kennengelernt und sind nach Shanghai gezogen, als ihm die Leitung des dortigen Instituts angeboten wurde.«
Tessa war verwirrt. Wenn Jems Mutter Chinesin gewesen war, dann war er ein Halbchinese, oder nicht? Die meisten chinesischen Einwanderer, die sie aus New York kannte, hatten in Wäschereien gearbeitet oder handgerollte Zigarren an Straßenständen verkauft, aber keiner von ihnen hatte Jem mit seinem seltsamen silberweißen Haar und den hellen Augen auch nur im Entferntesten ähnlich gesehen. Vielleicht hing das ja damit zusammen, dass er ein Schattenjäger war, überlegte sie. Allerdings wollte ihr partout kein Weg einfallen, wie sie ihn danach fragen konnte, ohne schrecklich unhöflich zu wirken.
Glücklicherweise schien Jem nicht darauf zu warten, dass sie das Gespräch fortsetzte. »Bitte entschuldigen Sie meine Frage, aber ... Ihre Eltern sind tot, nicht wahr?«, fragte er.
»Hat Will Ihnen das erzählt?«
»Das braucht er gar nicht. Wir Waisenkinder lernen schnell, einander zu erkennen. Wenn ich mir die Frage erlauben darf: Waren Sie sehr jung, als es geschah?«
»Ich war drei, als sie bei einem Kutschenunfall starben. Aber ich kann mich kaum noch an sie erinnern.« Nur in kurzen Erinnerungsfetzen: der Duft von Tabakrauch oder das fliederfarbene Kleid meiner Mutter. »Meine Tante hat mich großgezogen. Und meinen Bruder, Nathaniel. Aber meine Tante ...« Zu Tessas eigener Überraschung spürte sie plötzlich einen Kloß im Hals. Vor ihrem inneren Auge tauchte das deutliche Bild ihrer Tante auf, wie sie in ihrem schmalen Messingbett gelegen hatte, mit fiebrig glänzenden Augen. Und wie sie Tessa kurz vor ihrem Ende nicht mehr erkannt und mit ihrer Mutter Elizabeth verwechselt hatte. Tante Harriet war die einzige Mutter gewesen, die Tessa je gekannt hatte. Tessa hatte ihr auf dem Sterbebett die schmächtige Hand gehalten, damals in dem kleinen Zimmer, zusammen mit dem Priester. Sie erinnerte sich daran, wie sie nach Harriets Tod gedacht hatte, dass sie nun wirklich allein war. »Meine Tante ist vor Kurzem gestorben. Ein Fieber hat sie unerwartet hinweggerafft. Allerdings hatte sie sich nie bester Gesundheit erfreut.«
»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte Jem und klang aufrichtig teilnahmsvoll.
»Das war eine schlimme Zeit für mich ... auch weil mein Bruder bereits abgereist war. Er hatte sich einen Monat zuvor auf die Überfahrt nach England begeben. Zunächst hat er uns sogar noch Geschenke nach Hause geschickt - Tee von Fortnum & Mason und Pralinen. Als Tante Harriet krank wurde und schließlich starb, habe ich ihm wieder und wieder geschrieben, doch meine Briefe kamen ungeöffnet zurück. Ich war vollkommen verzweifelt. Und dann traf eines Tages der Fahrschein ein. Ein
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