Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Bündnisvertrag verstoßen. Wir könnten dich beim Rat anzeigen ...«
»Sosehr der Rat widerrechtliches Betreten auch missbilligt, so vertritt er sonderbarerweise eine noch viel schärfere Haltung gegenüber dem Enthaupten und Häuten von Personen. In dieser Hinsicht ist er wirklich ein wenig eigentümlich«, erwiderte Will.
»Personen?«, fauchte Mrs Dark. »Du meinst wohl Irdische. Die interessieren euch doch auch nicht mehr als uns.« Dann schaute sie Tessa an: »Hat er dir erzählt, wer er wirklich ist? Er ist kein menschliches Wesen.«
»Das sagen ausgerechnet Sie«, erwiderte Tessa mit zitternder Stimme.
»Und hat sie dir erzählt, wer sie ist?«, wandte Mrs Black sich an Will. »Hat sie dir von ihrer Begabung berichtet? Davon, wozu sie fähig ist?«
»Wenn ich eine Vermutung anstellen sollte, dann würde ich sagen: Es hat gewiss etwas mit dem Magister zu tun«, entgegnete Will.
Mrs Dark musterte ihn misstrauisch. »Du weißt von dem Magister?« Ihr Blick wanderte wieder zu Tessa. »Ah, verstehe. Du weißt nur das, was sie dir erzählt hat. Der Magister, mein kleiner Engelsknabe, ist ein viel gefährlicherer Mann, als du dir jemals vorstellen kannst. Und er hat schon sehr lange auf jemanden mit Tessas Fähigkeiten gewartet. Man könnte sogar behaupten, er ist derjenige, der dafür gesorgt hat, dass sie überhaupt geboren wurde ...«
Der Rest ihrer Worte ging in einem kolossalen Getöse unter, als die gesamte Ostwand des Raums plötzlich in sich zusammenbrach. Der Anblick erinnerte Tessa an die Darstellungen vom Fall der Mauern Jerichos in ihrer alten Kinderbibel: Wo vorher eine massive Wand gestanden hatte, klaffte nun eine riesige rechteckige Öffnung, aus der sich eine dicke Staubwolke durch den Raum wälzte.
Mrs Dark stieß einen spitzen Schrei aus und raffte mit knochigen Fingern ihre Röcke. Offenbar hatte sie ebenso wenig mit dem Einsturz der Mauer gerechnet wie Tessa.
Will packte Tessas Hand und zog sie an sich, um sie mit seinem Körper vor dem Hagel aus Steinen und Mörtel zu schützen, der auf sie herabprasselte. Als sich seine Arme um sie schlossen, konnte Tessa Mrs Black kreischen hören, und sie drehte den Kopf, um zu sehen, was passierte: Mrs Dark stand wie eine Statue da und zeigte mit einem behandschuhten, zitternden Finger auf das dunkle Loch in der Wand. Inzwischen hatte sich der Staub etwas gelegt und mehrere Schatten, die oberhalb des Trümmerhaufens aufgetaucht waren, nahmen nun Gestalt an: Die schemenhaften Konturen zweier Männer wurden sichtbar, jeder mit einer Klinge bewaffnet, die genau wie Wills Waffe ein seltsames, bläulich weißes Licht ausstrahlten. Engel, dachte Tessa verwundert, sprach ihren Gedanken aber nicht aus. Dieses strahlende Licht - wer oder was konnten die beiden sonst sein?
Mrs Black kreischte erneut schrill auf und stürzte sich mit ausgestreckten Händen, aus denen blaue, explodierende Funken flogen, auf die beiden Gestalten. Tessa hörte, wie jemand einen Schrei ausstieß - einen sehr menschlichen Schrei. Gleichzeitig gab Will sie frei, wirbelte herum und schleuderte sein hell brennendes Schwert in Mrs Blacks Richtung. Die Klinge drehte sich kopfüber um die eigene Achse und bohrte sich tief in ihre Brust. Die Dunkle Schwester schrie auf und zuckte, taumelte rückwärts und fiel krachend auf einen der grässlichen Metzgertische, der in einer Wolke aus aufspritzendem Blut und splitterndem Holz unter ihr zusammenbrach.
Will grinste - allerdings kein freundliches Grinsen. Dann drehte er sich zu Tessa um und sie schauten sich über den Raum hinweg einen kurzen Moment schweigend in die Augen. Sekundenbruchteile später stürmten die beiden Gefährten zu ihm - zwei Männer in eng sitzenden dunklen Anzügen, die sich mit ihren flammenden Waffen so schnell bewegten, dass Tessa das Gefühl hatte, ihre Sicht würde verschwimmen.
Sofort wich Tessa zur anderen Wand zurück, um dem Tumult in der Raummitte zu entgehen, wo Mrs Dark wüste Verwünschungen ausstieß und ihre Angreifer mit den brennenden Funken auf Abstand hielt, die sie wie einen feurigen Regen aus ihren Fingern schleuderte. Unterdessen wand Mrs Black sich auf dem Boden. Schwarze Rauchfahnen stiegen aus ihrem Körper auf, als würde sie von innen schwelen.
Langsam bewegte Tessa sich auf die offene Tür zu, die zum Gang führte, als zwei kräftige Hände sie packten und zurückrissen. Tessa schrie auf und wehrte sich verzweifelt, doch die Hände, die ihre Oberarme festhielten, waren stark wie Eisen.
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