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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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Prolog
    Das, was er zu tun beabsichtigte, trug schon seit vielen Jahrhunderten den Stempel eines ungeschriebenen Verbots.
    Das, was er zu tun beabsichtigte, schreckte ihn selbst – auch wenn er die Angst immer wieder fortjagen konnte. Zwei trockene Hölzchen, das eine senkrecht im anderen, waren auf die geschickteste Weise aneinander abgeschliffen worden. Das Reisig wartete, das trockene, spröde Moos war zur Hand, bereit, sich noch am schwächsten Funken voller Dankbarkeit zu entzünden.
    Bevor er mit der auslaugenden Arbeit begann, legte er die Handteller auf die Erde und bat diese um Nachsicht.
    Hinter ihm schwiegen die uralten Tannen in ihrem schweren, bodenlangen Gewand. Die unteren, zum Teil verdorrten Zweige zitterten wie schwarze Hände; das üppige grüne Moos hing als zauseliger Bart von den Stämmen herab.
    Es schwieg der Nebel, der sich den Hang hinunter ins Tal wälzte. Es schwiegen auch die fernen Berge, von denen die vorderen grün, die mittleren blau und die hinteren himmelgrau aufragten. Von weit her drang das Geklimper eines Glöckchens heran, das ein Hirte einem feinwolligen Schaf um den Hals gebunden hatte. Es musste ein guter Hirte sein, und das Glöckchen klang zart, silbern.
    Von dem gedrungenen, unscheinbaren Haus, das gerade halb im Nebel verschwand, trieb der Geruch von Rauch herüber.
    Er holte Atem. Langsam löste er den Riemen seiner Armbanduhr, nahm sie ab und steckte sie tief in seine Tasche, um sich gleich darauf das Handgelenk zu massieren. Ein letztes Mal sah er sich um, ehe er an die Arbeit ging.
    Ein reines Feuer entfachte man einzig auf diese Weise: indem man Holz gegen Holz rieb.
    Als sich die reine Flamme gen Himmel erhob, durfte sich der Mann für die nächsten Stunden in Sicherheit wiegen. Doch das Feuer würde niederbrennen, weshalb er bis zum Morgen die heißen Holzstücke bewachen musste, damit jene nicht erschien …
    Selbstverständlich konnte jene trotzdem erscheinen. Jetzt, da er seiner Arbeit nachkam und schutzlos war. Sie dürfte die Gefahr wittern, die von seinen Händen ausging, womöglich schnüffelte sie bereits unruhig herum, hielt die Nase bald in die eine, bald in die andere Richtung, um ein Lüftchen einzufangen, einen Hauch, einen Geruch.
    Vielleicht eilte sie sogar schon hierher. Der Mann spähte wieder umher und verdreifachte seine Anstrengungen.
    Das, was er da tat, trug schon seit vielen Jahrhunderten den Stempel eines ungeschriebenen Verbots. Doch … blieb ihm denn ein anderer Ausweg?
    Gab es denn eine andere Möglichkeit, sich zu schützen? Sich, seine Kinder, sein Vieh und sein Haus?
    Sollten diejenigen, die im Dorf wohnten, ruhig versuchen, sich freizukaufen. Sollten sie doch versuchen, sie zu umschmeicheln. Er, dessen Vorfahren schon seit Jahren nicht mehr in das Tal gezogen waren und auch nicht neben den anderen Menschen auf dem Friedhof lagen, sondern sich hier, auf diesem Berg, mit einer Einfriedung nahe dem Haus begnügen mussten … er würde sich niemandem beugen. Er würde sich selbst helfen.
    Das Holz roch schon nach Rauch. Der Rauch stieg unter seinen Händen auf. Noch ein wenig mehr, und wenn die Hexe dann nicht erschien, hätte er gewonnen.
    Der Rauch. Sein süßlicher Geruch. Die schnell hingeworfene rituelle Formel, eine Prise Erde, eine Prise Salz – und schon züngelte die reine Flamme wieder auf.
    Eine Weile lang entspannte er sich voller Genuss, bevor er sich schließlich erhob und weiteres Reisig ins Feuer gab. Dies prasselte, loderte und spie blaue, zerfranste Wolken aus. Ein reines Feuer. Morgen würde er in aller Frühe die Kinder über die erkaltete Glut laufen lassen, damit sie auch weiter gesund blieben. Er würde die Kuh hindurchführen, damit die Kinder stets genug zu essen hatten. Und er würde auch selbst hindurchgehen. Obendrein würde er ein Stück verkohlten Holzes in einen kleinen Beutel einnähen, den er sich um den Hals hängen wollte, sodass er ihr, sollte er sie treffen, unverzagt in die Augen blicken konnte …
    Er zuckte zusammen. Die Funken, wie sie da in den dunkelgrauen Himmel aufsprühten, flogen seiner Ansicht nach nicht so, wie es zu erwarten war.
    Sollte …? Sollte sie hier sein? Oder bildete er sich das ein?
    Er spähte zu dem sich dunkel abzeichnenden Berg hinüber, bis ihm die Augen schmerzten, tastete mit dem Blick die fernen Hänge ebenso wie die nahen Stämme ab. Jetzt stoben die Funken allerdings so, wie sie sollten. Folglich musste er sich getäuscht haben. Er würde noch ein Weilchen warten

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