Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
auf die unwirkliche Schönheit dieser Lichterscheinung - doch als sie Henrys Stimme hörte, der ihr zubrüllte, sie solle sich auf den Boden werfen, kam seine Warnung zu spät: Eine der lodernden Lichtscherben hatte sich bereits mit unglaublicher Kraft in ihre Schulter gebohrt. Tessa hatte das Gefühl, von einem rasenden Zug überrollt zu werden. Die Wucht riss sie von Henry fort, hob sie in die Höhe und ließ sie rückwärts gegen die Mauer prallen, wobei ihr Kopf mit brutaler Gewalt gegen die Steine schlug. Tessa konnte gerade noch Mrs Darks hohes keckerndes Gelächter hören - dann verlor sie das Bewusstsein und um sie herum wurde alles schwarz.
3
DAS INSTITUT
Liebe, Hoffnung, Furcht, Glaube machen die Menschheit aus;
dies sind ihre Zeichen, ihr Klang und ihr Charakter.
ROBERT BROWNING,
»PARACELSUS«
In ihrem Traum war Tessa erneut an das schmale Messingbett im Dunklen Haus gefesselt. Die Schwestern beugten sich über sie, klapperten mit langen Stricknadeln und lachten mit hoher, schriller Stimme. Dann verwandelten sie vor Tessas Augen ihre Gestalt: Die Augen verschwanden in den Höhlen, die Haare fielen aus und über den Mündern erschienen schwarze Kreuzstiche, die die Lippen zusammennähten. Tessa schrie auf doch sie schienen sie nicht zu hören.
Danach verschwanden die Schwestern und Tante Harriet beugte sich über Tessa. Ihr Gesicht wirkte fiebrig rot, so wie während ihrer schrecklichen Krankheit, die sie schließlich das Leben gekostet hatte. Mit einem Ausdruck großer Trauer betrachtete sie Tessa. »Ich habe es versucht«, sagte sie. »Ich habe wirklich versucht, dich zu lieben. Aber es ist nicht einfach, ein Kind zu lieben, das nichts Menschliches an sich hat ...«
»Nichts Menschliches?«, fragte eine unbekannte Frauenstimme. »Aber wenn sie kein Mensch ist, Enoch, was ist sie dann?« Im nächsten Moment schlich sich Ungeduld in die Stimme. »Was soll das heißen, du weißt es nicht? jeder ist doch irgendetwas. Dieses Mädchen kann doch nicht nichts sein ...«
Tessa erwachte mit einem Schrei. Sie riss die Augen auf und musste feststellen, dass um sie herum tiefe Dunkelheit herrschte. In ihrer Panik nahm sie nur ein leises Stimmengewirr wahr, das aus den Schatten zu ihr drang. Fieberhaft strampelte sie sich frei, stieß Decken und Kissen von sich und setzte sich auf, wobei ihr Unterbewusstsein nur halb registrierte, dass die Decke dick und schwer war - ganz im Gegensatz zu der dünnen, mit Litze besetzten Bettdecke im Dunklen Haus.
Angestrengt blinzelte Tessa in die Dunkelheit: Sie befand sich in einem Bett, genau wie sie geträumt hatte. Und der große Raum mit den Steinmauern, in dem das Bett stand, war kaum beleuchtet. Sie konnte das Rasseln ihres eigenen Atems hören, als sie sich umdrehte, doch im nächsten Moment entfuhr ihrer Kehle ein Schrei: Ein Gesicht wie aus ihrem Albtraum schwebte in der Dunkelheit direkt vor ihr - ein großes weißes Mondgesicht, mit kahl geschorenem Schädel, der wie Marmor glänzte. An der Stelle, wo sich die Augäpfel hätten befinden müssen, waren nur Höhlen zu erkennen - allerdings erweckten sie nicht den Eindruck, als wären die Augen aus dem Schädel herausgerissen worden. Es hatte vielmehr den Anschein, als hätten sie sich erst gar nicht entwickelt. Die Lippen des Mondgesichts waren mit schwarzen Nähten verschlossen und die gesamte Haut schien mit schwarzen Zeichnungen übersät zu sein, vergleichbar denen auf Wills Armen und Brust. Im Gegensatz zu dessen Malen wirkten sie jedoch, als wären sie mit einer Klinge in die Gesichtszüge geritzt worden.
Tessa schrie erneut auf und krabbelte hastig rückwärts, bis sie vom Bett rutschte. Als sie auf den kalten Steinboden auftraf und sich aufzurappeln versuchte, riss der Saum des Nachthemds, das ihr jemand übergestreift haben musste, während sie bewusstlos war.
»Miss Gray.« Jemand rief ihren Namen, doch in ihrer Panik registrierte sie lediglich, dass ihr die Stimme unbekannt war - und dass sie nicht von der monströsen Gestalt stammte, die sie von der Bettstatt aus mit reglosem Narbengesicht musterte. Das Monster hatte sich noch keinen Millimeter bewegt, aber obwohl es nicht den Anschein erweckte, als wolle es ihr nachsetzen, wich Tessa weiter vorsichtig zurück und tastete suchend nach einer Tür. Das Zimmer war so dunkel, dass sie nur eine ovale Raumform ausmachen konnte, mit Wänden aus Stein. Die Zimmerdecke lag in tiefen Schatten und an der gegenüberliegenden Wand befanden sich hohe, schmale
Weitere Kostenlose Bücher