Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Gehen zu weit nach außen«, fuhr Will fort, polierte eifrig einen Apfel an seiner Hemdbrust und schien Tessas wütendes Funkeln gar nicht zu bemerken. »Camille tritt behutsam und vorsichtig auf. Wie ein Faun im Wald. Und nicht watschelnd wie eine Ente.«
»Ich watschle nicht wie eine Ente!«
»Ich mag Enten«, lenkte Jem diplomatisch ein. »Vor allem die im Hydepark.« Er warf Will einen Seitenblick zu. Beide Schattenjäger hockten mit baumelnden Beinen auf der hohen Tischkante. »Weißt du noch, wie du mich dazu überredet hast, eine Geflügelpastete an die Stockenten zu verfüttern, um herauszufinden, ob wir eine Rasse von Kannibalen-Enten züchten könnten?«
»Und sie haben sie tatsächlich verputzt!«, schwelgte Will genüsslich in Erinnerungen. »Diese blutrünstigen kleinen Biester. Vertraue niemals einer Ente.«
»Ich muss doch sehr bitten!«, fauchte Tessa. »Wenn ihr mir nicht helfen wollt, könnt ihr genauso gut auch gehen. Ich habe eurer Anwesenheit hier nicht zugestimmt, nur um mir dann euer Geschnatter über Enten anzuhören.«
»Deine Ungeduld ist wirklich höchst undamenhaft«, konstatierte Will und grinste hinter seinem Apfel hervor. »Oder bemerke ich hier vielleicht ein Zeichen dafür, dass sich Camilles Vampircharakter zunehmend manifestiert?«
Sein Ton klang scherzhaft, was Tessa sehr seltsam erschien: Nur wenige Tage zuvor hatte er sie wegen ihrer Frage nach seinen Eltern angefahren und kurz darauf mit flehendem Ausdruck in den Augen gebeten, nur ja kein Wort über Jems blutigen Husten zu verlieren. Und nun neckte er sie, als sei sie die kleine Schwester eines guten Freundes - ein Mädchen, das er flüchtig kannte, vielleicht auch mit einer gewissen Zuneigung in seiner Gegenwart duldete, aber ganz bestimmt nicht mit komplexeren Gefühlen in Verbindung brachte.
Tessa biss sich auf die Lippe und zuckte im nächsten Moment zusammen, weil sie einen unerwartet heftigen Schmerz verspürte: Camilles Vampirzähne - ihre Zähne - folgten einem Instinkt, den sie einfach nicht verstehen konnte. Sie schienen ohne jede Vorwarnung aus ihren Scheiden zu gleiten und Tessa nur durch plötzliche Stiche auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen, wenn sie die zarte Haut ihrer Lippe durchstachen. Wie jedes Mal schmeckte sie auch nun Blut im Mund - ihr eigenes Blut, salzig und heiß - und presste einen Finger gegen die Wunde. Als sie die Hand herunternahm, schimmerte die Kuppe blutrot.
»Kümmere dich einfach nicht darum«, riet Will, legte den Apfel beiseite und stand auf. »Du wirst feststellen, dass deine Haut sehr schnell verheilt.«
Vorsichtig tastete Tessa mit der Zunge nach ihrem linken Schneidezahn, doch er fühlte sich wieder flach an, wie ein ganz gewöhnlicher Zahn. »Ich verstehe wirklich nicht, was sie dazu veranlasst, einfach so hervorzugleiten!«
»Hunger«, erklärte Jem. »Hast du vielleicht an Blut gedacht?«
»Nein.«
»Oder daran, über mich herzufallen?«, fragte Will.
»Nein!«
»Das würde dir gewiss niemand verübeln - er ist heute äußerst ermüdend«, meinte Jem.
Tessa seufzte. »Camille ist so kompliziert. Es gelingt mir einfach nicht, sie zu verstehen - ganz zu schweigen davon, sie darzustellen.«
Jem betrachtete Tessa aufmerksam. »Bist du in der Lage, ihren Geist zu berühren? Auf dieselbe Art und Weise, wie du die Gedanken anderer Menschen lesen konntest, in die du dich verwandelt hast?«
»Nein, noch nicht. Ich versuche es schon die ganze Zeit, aber ich erhalte bloß Geistesblitze, flüchtige Bilder. Ihre Gedanken sind offenbar sehr gut abgeschirmt.«
»Nun, dann können wir nur hoffen, dass du diesen Schutzwall bis morgen durchbrochen hast«, bemerkte Will. »Denn sonst sehe ich schwarz für uns.«
»Will, sag doch nicht so was!«, rügte Jem seinen Freund.
»Du hast recht«, erwiderte Will. »Ich sollte meine eigenen Fähigkeiten nicht unterschätzen. Falls Tessa die Geschichte vermasselt, bin ich bestimmt in der Lage, uns durch gierende Vampirmassen hindurch einen Weg in die Freiheit zu erkämpfen.«
Wie üblich ignorierte Jem diese Bemerkung einfach. »Vielleicht kannst du ja nur die Gedanken der Toten lesen?«, wandte er sich an Tessa. »Vielleicht stammten ja die Gegenstände, die die Dunklen Schwestern dir gegeben haben, ausschließlich von den Menschen, die sie umgebracht hatten.«
»Nein, daran liegt es glücklicherweise nicht. Ich habe Jessamines Geist berührt, als ich mich in sie verwandelt habe. Das Ganze wäre sonst auch eine ziemlich makabre
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