Ein skandaloeser Kuss
1. KAPITEL
Wie lange träume ich schon davon, diese faszinierenden Geschöpfe in ihrer natürlichen Umgebung zu erforschen; zu beobachten, wie sie ihre Netze spinnen und ihr Überleben sichern und sie dabei genauso wenig zu stören wie irgendein x-beliebiges Exemplar einer der vielen anderen Tiergattungen, die ihre Welt bevölkern.
– aus Das Spinnennetz von Lord Bromwell
England 1820
D ieser Mann gehörte eindeutig nicht hierher. Dessen war Nell Springley sich sicher, nachdem sie den einzigen anderen Fahrgast in der Postkutsche nach Bath zum wiederholten Male gemustert hatte. Als sie in London zugestiegen war, hatte er geschlafen, und obwohl das Gefährt die ganze Zeit rumpelte und gefährlich hin und her schwankte, schlief er immer noch, die Arme vor der Brust verschränkt und den modischen Kastorhut so tief in die Stirn gezogen, dass die Krempe seine Augen verdeckte.
Ohne Zweifel war er begütert, dem eleganten indigoblauen Gehrock aus feinem Wollstoff und den gut sitzenden ockerfarbenen Pantalons nach zu urteilen. Der aufwendig geschlungene Knoten seines blendend weißen Krawattentuchs verriet die Hand eines kunstfertigen Kammerdieners. Nell musterte die perfekt passenden Ziegenlederhandschuhe, die schlanke Finger modellierten, und dann die Reitstiefel, die so blank poliert waren, dass sich ihre Röcke darin spiegelten.
Ein Mann, der sich solche Garderobe leisten konnte, pflegte in seiner eigenen Kutsche zu reisen.
Vielleicht war er ein Spieler, der sein Vermögen durchgebracht hatte. Wenn er zu der Sorte gehörte, die Freiluftboxkämpfe bevorzugte, würde das die Sonnenbräune in seinem Gesicht erklären, von dem sie allerdings nur die untere Partie sehen konnte.
Oder er war ein ehemaliger, aus dem Dienst Seiner Majestät ausgeschiedener Marineoffizier. Sie konnte sich seine hochgewachsene Gestalt gut in der Uniform mit den Goldtressen auf den Schultern vorstellen. Auf dem Achterdeck stehend und Kommandos rufend, musste er einen umwerfenden Anblick geboten haben.
Genauso gut konnte er jemand sein, der ein nächtliches Zechgelage hinter sich hatte, bei dem sein gesamtes Geld für Brandy und Cognac draufgegangen war, und der nun seinen Rausch ausschlief. In dem Fall hoffte sie, dass er nicht wach wurde, ehe sie Bath erreichten. Sie verspürte nicht den Wunsch, sich mit einem Trunkenbold zu unterhalten. Auch nicht mit sonst jemandem.
Sie fuhren über eine besonders halsbrecherische Furche der Straße, und die Kutsche machte einen Satz, der das Gepäck im Stauraum durcheinanderrüttelte. Der Begleitreiter fluchte, und Nell hielt sich an der Sitzkante fest. Ihr Schutenhut war ihr in die Stirn gerutscht, sodass sie nichts mehr sehen konnte.
„Etwas ruckartig, in der Tat.“
Welch tiefe, freundliche Stimme! Nell rückte vorsichtig ihren Hut zurecht, hob den Blick und schnappte unwillkürlich nach Luft. Ihr Mitreisender war ohne Zweifel der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte.
Er hatte sich den Kastorhut aus der Stirn geschoben, sodass sie seine graublauen Augen sehen konnte, aus denen er sie liebenswürdig anblickte. Sein Gesicht war kantig, seine Nase schmal und gerade, und die kleinen Fältchen um seine Augen ließen vermuten, dass er trotz seiner jungen Jahre mehr Welterfahrung hatte als sie.
Nun ja, mehr Welterfahrung als sie hatten die meisten Menschen.
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie ihr Gegenüber anstarrte. Die Wangen gerötet, als habe man sie beim Lauschen ertappt, senkte sie den Blick und verschränkte die Hände auf dem Schoß.
Aus dem Augenwinkel nahm sie dabei ein krabbelndes Etwas auf dem sandfarbenen, doppelt rot gestreiften Sitzbezug neben sich wahr.
Eine Spinne! Eine widerliche, fette braune Spinne, die sich in ihre Richtung bewegte.
Mit einem unterdrückten Aufschrei schoss Nell hoch, verlor das Gleichgewicht – und plumpste ihrem Mitreisenden auf den Schoß, nicht ohne ihm dabei den Hut vom Kopf zu stoßen.
„Keine Angst!“ Seine vornehme Aussprache war nur ein weiterer Beweis dafür, dass er zur feinen Gesellschaft gehörte.
Nell errötete wenn möglich noch tiefer und rutschte hastig auf den Platz neben ihm. „Ich … ich bitte vielmals um Verzeihung“, stammelte sie in dem Gefühl, hoffnungslos töricht zu erscheinen, stellte jedoch gleichzeitig fest, dass die verirrte dunkle Locke in seiner Stirn ihn sehr jungenhaft und alles andere als einschüchternd aussehen ließ.
„Kein Grund, Angst zu haben“, betonte ihr Reisegefährte noch einmal. „Es
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