Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Fähigkeit.«
Jem musterte sie aus seinen silberhellen Augen. In seinem Blick lag etwas so Eindringliches, dass Tessa fast ein wenig mulmig wurde. »Wie klar kannst du die Gedanken der Toten tatsächlich sehen?«, fragte er. »Wenn ich dir beispielsweise einen Gegenstand geben würde, der einst meinem Vater gehört hat, wüsstest du dann, was er im Moment seines Todes gedacht hat?«
Bei diesen Worten schaute Will den anderen Jungen überrascht und beunruhigt an. »James, ich glaube nicht ...«, setzte er an, verstummte aber, als sich die Tür öffnete und Charlotte die Bibliothek betrat. Doch sie war nicht allein: Ihr folgten mindestens ein Dutzend Leute - Fremde, die Tessa noch nie gesehen hatte.
»Die Brigade«, raunte Will und bedeutete Jem und Tessa, sich hinter einem der hohen Bücherregale zu verbergen. Von ihrem Versteck aus beobachteten sie gemeinsam, wie sich der Raum mit Schattenjägern füllte. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Männer, doch Tessa entdeckte auch zwei Frauen darunter.
Fasziniert betrachtete sie die beiden Schattenjägerinnen und musste dabei an Wills Worte über Boadicea denken: Auch Frauen konnten zum Schwert greifen. Die größere der beiden - sie war knapp einen Meter achtzig groß - trug ihr puderweißes Haar zu einem Kranz hochgesteckt. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters von über sechzig Jahren besaß sie eine hoheitsvolle Ausstrahlung. Die andere Frau war deutlich jünger und verströmte mit ihren dunklen Haaren und den katzenartigen Augen ein geheimnisvolles Flair.
Die restlichen Schattenjäger - eine Gruppe Männer unterschiedlicher Herkunft - wirkten dagegen fast wie zusammengewürfelt. Der Älteste unter ihnen war nicht nur von Kopf bis Fuß in Grau gekleidet, sondern hatte auch graue Haare und einen leicht gräulichen Teint. Sein hageres Gesicht mit der ausgeprägten, aber schmalen Nase und dem spitzen Kinn erinnerte Tessa an einen Adler und um die rot geränderten Augen gruben sich tiefe Krähenfüße in die faltige Haut, die unterhalb der Wangenknochen noch dunkler schimmerte. Neben ihm stand der jüngste der Gruppe, ein Schattenjäger, der nicht viel älter als Jem oder Will sein konnte und eine steife, wenn auch nicht unattraktive Ausstrahlung besaß, mit kantigen, allerdings ebenmäßigen Gesichtszügen, wirren braunen Haaren und einem wachsamen Blick.
Jem stieß ein unangenehm überraschtes Schnauben aus. »Gabriel Lightwood«, raunte er in Wills Richtung. »Was hat der hier zu suchen? Ich dachte, er wäre im Internat in Idris.«
Will hatte sich nicht von der Stelle bewegt und starrte den braunhaarigen Jungen mit hochgezogenen Augenbrauen an, wobei ein mattes Lächeln seine Lippen umspielte.
»Leg dich bitte nicht mit ihm an, Will«, fügte Jem hastig hinzu. »Jedenfalls nicht hier. Mehr erwarte ich gar nicht von dir.«
»Das ist ziemlich viel verlangt, findest du nicht?«, erwiderte Will, ohne den Blick von der Schattenjägergruppe abzuwenden. Er beugte sich leicht vor und beobachtete, wie Charlotte die Männer und Frauen zu einem großen Tisch im vorderen Bereich der Bibliothek dirigierte.
»Frederick Ashdown und George Penhallow, wenn ihr bitte hier Platz nehmen wollt«, forderte sie zwei Schattenjäger auf und wandte sich an die nächsten: »Lilian Highsmith, bitte hier drüben neben der Landkarte und ...«
»Und wo ist Henry?«, fiel ihr der große, grauhaarige Mann mit vorgeblich höflichem Interesse ins Wort. »Dein Gatte, Henry Branwell? Als einer der Leiter dieses Instituts sollte er wirklich zugegen sein.«
Charlotte zögerte nur einen Sekundenbruchteil, ehe sie eine freundliche Miene aufsetzte. »Er ist auf dem Weg hierher, Benedict Lightwood«, erklärte sie.
Tessa erkannte dadurch zweierlei: zum einen, dass der grauhaarige Mann sehr wahrscheinlich Gabriel Lightwoods Vater war, und zum anderen, dass Charlotte log.
»Er täte auch gut daran! Eine Zusammenkunft der Brigade ohne den Leiter des Instituts - äußerst regelwidrig«, murrte Benedict Lightwood und wandte ruckartig den Kopf ab. Hastig zog Will sich hinter das Bücherregal zurück, doch es war bereits zu spät. Der große Mann kniff die Augen zusammen und dröhnte durch den Raum: »Und wer verbirgt sich dahinten? Komm heraus und zeig dein Gesicht!«
Will warf Jem einen Blick zu, der beredt die Achseln zuckte. »Hat wohl keinen Zweck, sich hier hinter dem Bücherregal zu verstecken, bis man uns hervorzerrt, oder?«
»Das meinst aber auch nur du!«, zischte Tessa. »Ich lege
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