PR TB 246 Expedition Ins Totenreich
1. Das Fest der Selbstmörder
Der Boden war grau und staubig, eine glatte Öde, die sich bis
zum Horizont erstreckte und dann mit der schmutzigweißen
Wolkendecke des Himmels verschmolz. Hier und da erhoben sich
verkrüppelte, kahle Bäume; dürre Stämme und
knorriges Astwerk, das sich flehentlich dem Firmament entgegenreckte.
Aber natürlich waren die Bäume nur eine Illusion.
Wie der Boden, der Himmel, die Wolken.
Sayla Heralder blieb stehen und bohrte ihre Stiefelspitze in den
feinen
Staub, der nur in ihrer Einbildung existierte und dennoch in der
Kehle kratzte, wenn er von ihren Schritten aufgewirbelt wurde. Sie
drehte den Kopf und sah nach rechts, zu dem einsamen Baum auf der
flachen Hügelkuppe, zu dem Mann, der mit mürrischem Gesicht
an dem Stamm lehnte und die Augen niedergeschlagen hatte. Ein grauer
Bart wucherte struppig an seinem Kinn, seinen Wangen, und weiße
Strähnen durchzogen das schüttere Haupthaar. Die einst
elegante Flimmerjacke war zerknittert und abgewetzt und die
eingewirkten lumineszierenden Fasern hatten ihre Leuchtkraft fast
völlig verloren. Die Hose war fleckig, die Lederschuhe wiesen
Kratzer auf und die goldgeäderten Gamaschen waren löchrig
und zerlumpt.
Wie passend, dachte Sayla Heralder mit einem Hauch von Ironie. Und
wie einfallsreich. Eine Mischung aus Bosch und Beckett. Haben die
Auktionatoren einen neuen Holo-Regisseur engagiert?
Unschlüssig betrachtete sie den bärtigen Fremden und
fragte sich, ob er wohl ihr Kontaktmann war - oder nur einer von den
armen Narren, die wie Lemminge aus allen Teilen der Milchstraße
nach YANINSCHA strömten, um nach einem Jahr voller Lust und
Glück freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Der Mann ignorierte
sie und starrte weiter zu Boden. Sie zuckte die Schultern. Es hatte
keinen Sinn, länger zu warten. Wenn sie Sicherheit gewinnen
wollte, mußte sie ihn fragen - und zwar auf die richtige Art.
Sayla setzte sich in Bewegung und schritt langsam die flache
Böschung hinauf. Aufgewirbelter Staub strich in dünnen
Schwaden dicht über den Boden dahin. Das Knirschen des Sandes
und das Seufzen ihrer eigenen Atemzüge waren die einzigen Laute
in der Öde. Der Bärtige beachtete sie noch immer nicht, und
wie er da stand neben der erbärmlichen Karikatur eines Baumes,
kamen Sayla einige Verse aus Dantes Göttlicher Komödie in
den Sinn. Nicht grünes Laub, nein, nur von dunkler Farbe, nicht
glatte Zweige, sondern krumm und knorrig, nicht Früchte gab es
dort, nur giftige Dornen. Ja, dachte Sayla fröstelnd, das ist
er, der Wald der Selbstmörder im siebten Höllenkreis. Und
wie die Bäume verkrüppelt sind, so ist auch der Wald
verkrüppelt und vom Sand der Öde zerfressen. Vielleicht ist
es wahr. Vielleicht sind die Seelen der Selbstmörder tatsächlich
in das morsche Mark dieser Bäume eingegangen. Vielleicht hört
man sie klagen und jammern, wenn man einen der entlaubten Zweige
abknickt. Möglich, daß ich - wie Dante selbst - dann Pier
della Vignas Stimme vernehme. Und dieser Fremde dort, er ist nicht
der Kontaktmann oder einer dieser verrückten Lebensmüden,
sondern Virgil, mein Führer durch die Kreise der Hölle.
Sayla schüttelte den Kopf und verdrängte die absurden
Gedanken. Die Holo-Projektion, sagte sie sich. Sie ist zu real, zu
überzeugend. Man vergißt, daß man sich in YANINSCHA
befindet, über vierzehntausend Lichtjahre von der Erde entfernt,
zwischen den Sternen, in der Finsternis des Weltraums. Dort, wo nur
das Gesetz der Stahlhand regiert - und das Gesetz des Geldes.
Dicht vor dem Bärtigen verharrte sie, und erst jetzt hob er
den Kopf. Seine Augen waren grau wie sein Bart.
»Sie sind hier, um mich sterben zu sehen, nicht wahr?«
sagte der Mann mit
einer Stimme, die Untertöne des Zorns und der Verbitterung
aufwies. »Sie sind gekommen, um zu sehen, wie das Leben aus mir
entflieht, aber sie kommen zu spät. Man muß nicht zu Grabe
getragen werden, um tot zu sein. Es genügt schon, nicht einmal
gelebt zu haben. Das ist das eigentliche Geheimnis des Todes. Es ist
ein schrecklicher Irrtum zu glauben, daß der Tod erst kommen
muß, um einen zu holen. Er ist bereits da. Aber die meisten
Menschen ahnen nichts von seiner Gegenwart, bis ihre Stunde schlägt
und der Tod an die Pforten der Wahrnehmung klopft. Das sind die
Glücklichen unter den Menschen, hören Sie? Doch nicht alle
sind so glücklich. Manche bemerken den Tod zu früh, viel zu
früh, und sie sterben dahin, unentdeckt, lautlos, so heimlich,
daß sie sogar den
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