Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
scharfen Blick zu, doch Tessa fand als Erste ihre Sprache wieder. »Sag doch nicht so etwas«, tadelte sie Jem. »Es kann doch noch immer ein Heilmittel gefunden werden. Ich wüsste keinen Grund, alle Hoffnung aufzugeben.«
Doch die Art und Weise, wie Will sie in diesem Moment anfunkelte, mit wütend blitzenden blauen Augen, ließ sie beinahe zusammenzucken.
Jem schien von alldem nichts zu bemerken und erwiderte ruhig und gefasst: »Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, Tessa Gray. Ich erhoffe mir lediglich etwas anderes als du.«
Die darauffolgenden Stunden zogen sich sehr in die Länge. Irgendwann nickte Tessa ein, den Kopf auf eine Hand gestützt, während das gedämpfte Rattern der Räder bis in ihre Träume vordrang. Sie erwachte erst mit einem Ruck, als Jem sie sanft an der Schulter rüttelte, die Dampfpfeife ertönte und der Schaffner den Namen der nächsten Bahnstation ausrief: Die Stadt York war erreicht. In fliegender Eile und umgeben von Koffern, Hüten und Gepäckträgern kletterten die drei aus dem Zug hinunter auf den Bahnsteig. Der Yorker Bahnhof war nicht annähernd so überfüllt wie King’s Cross und mit einer wesentlich imposanteren gewölbten Dachkonstruktion aus Eisenträgern und Glas versehen, durch deren Scheiben Tessa einen Blick auf den grauschwarzen Himmel erhaschte.
Die Gleise erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Tessa, Jem und Will befanden sich auf dem Bahnsteig, der dem eigentlichen Bahnhofsgebäude am nächsten gelegen war. Große Bahnhofsuhren mit goldenen Zifferblättern verkündeten hier die Uhrzeit: sechs Uhr abends. Aufgrund des schlechten Wetters schien es, als hätte die Abenddämmerung bereits eingesetzt.
Die drei Reisenden hatten sich kaum unter einer der Uhren versammelt, als auch schon ein Mann aus den Schatten hervortrat. Bei seinem Anblick konnte Tessa einen Aufschrei gerade noch unterdrücken. Er trug einen dicken Mantel, einen breiten Hut aus schwarzem Ölzeug und Stiefel wie ein alter Seebär. Sein langer Bart schimmerte grauweiß und seine Augen wurden von buschigen weißen Augenbrauen überschattet. Ohne Zögern legte er Will eine Hand auf die Schulter. »Nephilim?«, fragte er mit rauer Stimme und ausgeprägtem nordenglischem Akzent. »Seid ihr das?«
»Gütiger Gott«, entgegnete Will und schlug sich theatralisch eine Hand aufs Herz. »’s ist der Seemann mit grauem Bart, hält einen von drei Gästen an.«
»Ich bin im Auftrag von Aloysius Starkweather hier. Seid ihr nun die drei, die ich zu ihm bringen soll oder nich’? Hab schließlich nich’ die ganze Nacht Zeit, hier rumzutrödeln.«
»Vermutlich noch eine wichtige Verabredung mit einem Albatros?«, erkundigte Will sich. »Lassen Sie sich von uns nicht aufhalten.«
»Mit seiner launigen Coleridge-Bemerkung wollte mein übermütiger Freund eigentlich Folgendes sagen: Wir sind in der Tat Schattenjäger vom Londoner Institut«, warf Jem hastig ein. »Charlotte Branwell schickt uns. Und Sie sind ...?«
»Gottshall«, erwiderte der Mann schroff. »Meine Familie dient den Nephilim vom Yorker Institut seit fast dreihundert Jahren. Ich kann durch euren Zauberglanz sehn, ihr Grünschnäbel. Aber nicht durch den von ihr hier«, fügte er hinzu und richtete seinen Blick auf Tessa. »Falls das Mädchen irgendwie getarnt ist, muss das ein Glanz sein, den ich nich’ kenn.«
»Sie ist eine Irdische - eine Aszendierende«, erklärte Jem eilig. »Und meine zukünftige Gemahlin.« Beschützend nahm er Tessas Hand und drehte sie so, dass Gottshall den Ring an ihrem Finger sehen konnte. »Der Rat vertrat die Ansicht, es könnte für sie von Vorteil sein, einmal ein anderes Institut kennenzulernen als nur das in London.«
»Weiß Mr Starkweather davon?«, fragte Gottshall, dessen schwarze Augen unter der Krempe seines Huts funkelten.
»Das hängt davon ab, was Mrs Branwell ihm mitgeteilt hat«, erwiderte Jem ausweichend.
»Na, da kann ich nur für euch hoffen, dass sie es nich’ vergessen hat«, meinte der alte Diener mit erhobenen Augenbrauen. »Der Mistk... Mann, der Überraschungen noch weniger leiden kann als Aloysius Starkweather, muss erst noch geboren werden. Verzeihung, Miss.«
Tessa lächelte und neigte den Kopf ein wenig, doch tief in ihrem Inneren war ihr mulmig zumute. Ihr Blick wanderte von Jem zu Will, aber beide wirkten ruhig und gelassen. Offensichtlich waren sie daran gewöhnt, zu einer derartigen List zu greifen, überlegte Tessa - was man von ihr jedoch nicht behaupten konnte. Zwar
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