Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
weitere Teller aufzudecken. Möglicherweise hab ich vergessen, sie daran zu erinnern, dass wir Gäste erwarten.«
Gottshall starrte seinen Dienstherrn verwundert an, nickte dann aber benommen - was Tessa ihm nicht verübeln konnte. Es war offensichtlich, dass Starkweather beabsichtigt hatte, sie umgehend nach London zurückzuschicken, sich im letzten Moment aber eines Besseren besonnen hatte. Erneut schaute Tessa zu Jem, der genauso verwirrt aussah, wie sie sich selbst fühlte; dagegen erweckte Will mit seinen großen blauen Augen und der Unschuldsmiene eines Chorknaben den Eindruck, als hätte er nichts anderes erwartet.
»Nun kommt schon«, forderte Starkweather die drei schroff auf, ohne Tessa dabei anzusehen. »Ihr braucht hier nicht rumzustehen wie die Ölgötzen. Folgt mir. Ich bring euch zu euren Zimmern.«
»Beim Erzengel!«, stieß Will hervor und stocherte mit seiner Gabel in der bräunlichen Pampe auf seinem Teller. »Was um alles in der Welt ist das?«
Tessa musste einräumen, dass es sich wirklich schwer sagen ließ. Starkweathers Bedienstete - hauptsächlich altersgebeugte Männer und Frauen und eine griesgrämig dreinblickende Haushälterin - waren seinen Befehlen nachgekommen und hatten drei weitere Teller für das Abendessen aufgedeckt. Dieses wurde in einer silbernen Suppenterrine serviert, bestand aber aus einem dunkelbraunen, klumpigen Eintopf, den eine Hausdame in schwarzem Kleid und weißer Haube auf ihre Teller löffelte. Die Frau war derart alt und gebeugt, dass Tessa sich regelrecht zwingen musste, nicht aufzuspringen und ihr beim Aufträgen zu helfen. Als alle Teller gefüllt waren, machte die Hausdame kehrt und schlurfte hinaus, sodass Jem, Tessa und Will allein im Esszimmer zurückblieben und sich über den Tisch hinweg verwundert anschauten.
Natürlich hatte man auch für Starkweather ein Gedeck platziert, aber er war nicht da. Nach einem Blick auf ihren Teller musste Tessa sich eingestehen, dass sie es an seiner Stelle auch nicht eilig gehabt hätte, zum Abendessen zu erscheinen. Der aus zerkochtem Gemüse und zähem Fleisch komponierte Eintopf wirkte im schummrigen Licht des Esszimmers nicht sehr appetitlich. Nur wenige Elbenlichtkerzen erhellten den beengten Raum, dessen Tapeten sich im Laufe der Jahre dunkel verfärbt hatten und dessen Spiegel über dem nicht angezündeten Kamin blind und fleckig wirkte. Noch dazu fühlte sich Tessa furchtbar unbehaglich in ihrer Abendrobe - ein steifes Kleid aus blauem Taft, das sie sich von Jessamine geliehen und von Sophie hatte umschneidern lassen und das im fahlen Licht nun in den Farben eines Blutergusses schillerte.
Aber trotz der wenig einladenden Speise war es ein höchst eigenartiges Benehmen ihres Gastgebers, darauf zu bestehen, ihm beim Dinner Gesellschaft zu leisten, und dann selbst nicht zu erscheinen. Etwa eine halbe Stunde zuvor hatte ein Diener, der mindestens so gebrechlich und alt war wie die Hausdame, Tessa zu ihrem Zimmer geführt, einem großen, dämmrigen Gemach, das mit schweren Möbeln vollgestopft war. Auch hier brannte nur eine trübe Funzel, als versuchte Starkweather, beim Petroleum oder bei den Kerzen Geld zu sparen - obwohl Tessas Wissen nach Elbenlicht doch gar nichts kostete. Aber vielleicht schätzte er auch einfach nur die Dunkelheit.
Ihr Zimmer war kalt, düster und mehr als nur ein bisschen unheimlich. Das schwache Feuer, das im Kamin brannte, hatte kaum dazu beigetragen, den Raum zu erwärmen. Tessas Blick fiel auf die Kaminumfassung, die auf beiden Seiten mit einem gezackten Blitz versehen war - ein Symbol, das Tessa auch auf dem weißen Krug mit eiskaltem Wasser entdeckte, mit dem sie sich schnell Hände und Gesicht wusch. Während sie sich abtrocknete, fragte sie sich, warum ihr dieses Symbol nicht bereits im Codex aufgefallen war. Es musste doch irgendeine besondere Bedeutung besitzen. Schließlich war auch das Londoner Institut über und über mit Sinnbildern der Schattenjäger dekoriert - wie etwa der Engel, der aus einem See aufstieg, oder das Symbol mit dem vierfachen Buchstaben C.
Nachdem Tessa in ihre Abendrobe geschlüpft und der Gong zum Abendessen ertönt war, machte sie sich auf den Weg zum Treppenhaus, einer dunklen Ungeheuerlichkeit mit üppigem Holzschnitzwerk aus dem siebzehnten Jahrhundert. Genau wie in ihrem Zimmer hingen auch hier wuchtige Porträts. Auf dem Treppenabsatz hielt Tessa kurz vor einem Bildnis inne, das ein sehr junges Mädchen in einem altmodischen Kinderkleidchen
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