Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters
Fischzähne
Kyra begegnete der unheimlichen Frau, in deren Handtasche ein Fliegender Fisch lebte, an einem Freitagabend.
Kyra war zwölf – ziemlich erwachsen, fand sie. A n derswo wäre es vielleicht gefährlich für ein Mädchen in ihrem Alter gewesen, nach Einbruch der Abenddämm e rung ganz allein durch die Gegend zu streifen. Anderswo hätten sich ihre Eltern wahrscheinlich schon Sorgen gemacht, und, wer weiß, vielleicht wären bereits fünf Hubschrauber und zweihundert Polizisten unterwegs, um nach ihr zu suchen.
Nicht aber hier, nicht in Giebelstein. Hier geschah nie irgendetwas. Alles war nett und freundlich. So bescha u lich, sagten die Erwachsenen. So sterbenslangweilig, meinte Kyra. Zumindest bis zu diesem Abend.
Meistens dachte sie so was, wenn sie allein war, so wie jetzt. Ihre besten Freunde Nils und Lisa, deren Eltern das alte Hotel Erkerhof gehörte, hatten heute zu Hause bleiben müssen. Eine der hässlichen Blumenvasen in den verwinkelten Fluren des Hotels war beim Fangenspiel der Geschwister zu Bruch gegangen. Zur Strafe hatte ihr Vater sie zu einem Tag Hausarrest verdonnert.
Nun war ein Tag Zuhausebleiben eigentlich nicht besonders schlimm, aber Kyra kam es trotzdem vor wie … na ja, ungefähr wie Fußnägelziehen. Kyra wurde nämlich nie bestraft. Ihre Tante Kassandra, bei der sie lebte, hielt nicht viel davon – was wirklich eine feine Sache war.
Kyra wusste sehr genau, wie weit sie gehen durfte, um Tante Kassandra nicht zu verärgern. Zum Beispiel durfte sie abends lange aufbleiben, viel länger als andere Kinder. Auch war es nicht schlimm, wenn sie einmal das Mittagessen versäumte. (Tante Kassandra war eine schauderhafte Köchin, und Vegetarierin noch dazu.) Am besten aber war, dass ihre Tante niemals fragte »Hast du dir auch die Zähne geputzt?«, oder »Wie sehen denn deine Fingernägel aus?«.
Ja, Tante Kassandra war wirklich in Ordnung.
Jetzt aber, an diesem Freitagabend, dachte Kyra weder an Mittagessen noch an Zähneputzen. Der Abend war viel zu schön, um sich mit solchen Unwichtigkeiten zu beschäftigen. Der Mond stand schon am Himmel, und das, obwohl es noch nicht völlig dunkel war. In ein paar Tagen würde Vollmond sein, und bereits jetzt lag weißgraues Licht über dem Land wie eine Glasur aus Eis.
Giebelstein war eine kleine Stadt, und sie ruhte einsam inmitten einer weiten Hügellandschaft. Felder und Weiden umgaben den Ort von allen Seiten, überzogen von einem Raster dichter Begrenzungshecken und grasüberwucherter Feldwege. Im Norden und Süden, ungefähr zwei, drei Kilometer von der Stadt und ihrer alten Festungsmauer entfernt, wucherten dichte Wälder. Während der Dämmerung sahen sie aus wie schwarze Löcher, die jemand in ein Gemälde gebrannt hatte.
Kyra hatte den Nachmittag im Hügelgrab verbracht. Das war ihr Lieblingsplatz, und normalerweise – wenn nur diese verflixte Vase nicht zerbrochen wäre – hätten Nils und Lisa sie dorthin begleitet. Sie konnten dort stundenlang herumsitzen, auf Grashalmen kauen, den Vögeln am Himmel zuschauen und Unsinn reden. Vor allem Unsinn reden.
Heute freilich war es damit nicht allzu weit her. Kyra hätte schon mit sich selbst reden müssen, und das wurde sehr schnell langweilig. Nicht, dass sie Leute, die Selbstgespräche führten, für verrückt hielt, oh nein! Manchmal erwischte sie sich sogar selbst dabei. Aber es war eben nicht besonders unterhaltsam, wenn man immer schon im Voraus wusste, was einem als Nächstes erzählt wurde. Deshalb hatte sie lieber dagesessen, herumgesponnen und zwischendurch ein paar Seiten in einem Buch gelesen, das sie von zu Hause mitgebracht hatte.
Das alte Hügelgrab lag natürlich – nicht schwer, das zu erraten – auf einem Hügel. Im Dorf erzählte man sich, dass es mindestens dreitausend Jahre alt sei, vielleicht sogar noch älter. Damals, als noch die Germanen oder Kelten oder weiß-der-Teufel-wer hier gehaust hatten, hatte man die Spitze des Hügels abgetragen und aus grauem Bruchstein wieder aufgebaut, eine halbrunde Kuppel, in deren Mitte es eine Kammer gab. Man konnte sie durch einen Gang erreichen, der ins Innere des Grabes führte. Früher war dort wahrscheinlich ein mächtiger Krieger aufgebahrt worden, mausetot, mit Ketten aus Tierzähnen und einem gehörnten Helm, den man ihm auf die Brust gelegt hatte.
Mittlerweile allerdings sah man davon nichts mehr. Die Steinkammer war schon seit vielen Jahren leer. Grabräuber und Wissenschaftler hatten alles ausgeräumt und
Weitere Kostenlose Bücher